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Exile On Main Street

Exile On Main Street

30. Mai 2003

Michael Koltan

Einleitung

Natürlich war der Vorschlag, in einer Reihe zum Thema ,,Exil`` einen Vortrag über Exile on Main Street zu halten, ursprünglich nicht ganz ernst gemeint. Angesichts derer, die aufgrund widriger politischer Umstände ins Exil getrieben wurden und dabei oft genug nur das nackte Leben mitnehmen konnten, muß es zynisch erscheinen, das Exil der Rolling Stones Anfang der siebziger Jahre in Südfrankreich damit in einem Atemzug zu nennen. 1971, während der Aufnahmen von Exile on Main Street gab Keith Richards für seine Lebensunterhalt wöchentlich 7000 Dollar aus: 2500 Dollar für die Miete der Villa an der Cote d'Azur, 1000 Dollar für Essen, 1000 Dollar für Alkohol und noch einmal 2500 Dollar für Drogen; und das war immer noch weniger als ein Drittel seines wöchentlichen Einkommens.1

Diese, man kann es nicht anders bezeichnen, Dekadenz, gehört eigentlich in eine Reihe mit dem Exil abgesetzer Diktatoren, die von ihren rechtzeitig angelegten Schweizer Nummerkonten leben. Und natürlich war das den Stones auch bewußt: Das Doppelalbum heißt schließlich nicht einfach Exile, sondern Exile on Main Street. Die Band, die Anfang der 60er Jahre als Rythm'n'Blues-Kapelle angefangen hatte, zu einer Zeit, als in England außer ihnen selbst höchstens eine Handvoll Leute auch nur den blassesten Schimmer hatte, was den Rythm'n'Blues überhaupt sein sollte, diese Band war inzwischen aus den finsteren Hinterhöfen herausgekrochen und auf der Hauptstraße angekommen. Doch war sie damit glücklich?

Musikbeispiel 1:  Happy
Hier über das angebliche ,,zwanglose, euphorische Durcheinander`` des Stückes zu schwadronieren, wie dies Steve Appleford gemacht hat, kann, mit Verlaub, nur ein Tauber; verzweifelter als in diesem Stück kann das Wort ,,happy`` eigentlich kaum herausgespuckt werden. Keith Richards, der eigentliche Architekt von Exile on Main Street, umreißt in einigen wenigen Zeilen, warum er ein Rolling Stone geworden war:

,,Ich habe immer Süßigkeiten von Fremden genommen,
wollte niemals einen Beruf ergreifen.
Ich wollte nie wie Papa sein,
der Tag und Nacht für seinen Chef arbeitete.``
Das ist buchstäblich biographisch gemeint:

,,Bert Richards war der prototypisch abwesende Vater. Ein kleiner, schüchterner Mann, der regelmäßig um 5 Uhr morgens aufstand, um zur schlecht bezahlten Arbeit in einem Kraftwerk in Hammersmith, London zu gehen, wo er Vorarbeiter war. Von dort kehrte er in sein von Bomben beschädigtes Haus um sechs Uhr abends zurück, wo er sich in einen Sessel im Wohnzimmer fallen ließ und sich dort in undurchdringliches Schweigen hüllte, bis er ins Bett ging.``2
Im Kontext von Happy geht es nicht nur um die verständliche jugendliche Attitude, nicht so werden zu wollen wie der eigene Vater, nicht ein genauso dummes, unerfülltes Leben zu führen. Hier wird eine ganze Generation dafür angeprangert, daß sie es vor lauter Wiederaufbau in der Nachkriegszeit versäumt hat, ihren Kindern das zu geben, was sie gebraucht hätten: ,,I need a love to keep me happy.``

Doch auch die nächste Strophe handelt von Verrat, diesmal nicht in der leiblichen Familie, sondern in der Ersatzfamilie, der Band. Unmittelbares Objekt der nächsten Anklage ist natürlich Mick Jagger, der zu diesem Zeitpunkt Gefallen an Flügen im Lear Jet und dem Schlürfen von Cocktails gefunden hatte. Ende 1970 hatte Jagger öffentlich erklärt:

,,Man kommt an den Punkt, an dem man alles ändern muß - sich ein neues Aussehen, neue Geldquellen, ein neues Geschlecht und eine neue Frau zulegen muß, wenn man im Geschäft bleiben will.``3
Ihren frappantesten Ausdruck fand Jaggers Wandlung vom bösen Buben des Rock'n'Roll zum Mitglied des internationalen Jet Sets im Mai 1971, als er sich mit Bianca Perez Morena de Macias in Saint-Tropez verheiratete. Während zur Hochzeit Lord Litchfield, ein Cousin der Königin, eingeladen war, mußten, mit Ausnahme von Keith, die Stones draußen bleiben. Keith zeigte seine Begeisterung für die Vermählung deutlich: Nachdem er mit einiger Mühe die Polizeiabsperrungen überwunden hatte, kippte er zugedröhnt um und verbrachte den größten Teil der Festlichkeiten auf dem Fußboden. Victor Bockris schreibt dazu in seiner Richards-Biographie:

,,In der Tat drückte Keith seine Ablehnung von Biancas Einfluß auf Mick mit kaum verholener sarkastischer Rachsucht aus. Er betitelte sie als Hoheit`, um zu zeigen, wie sehr es ihn ankotzte, daß es jemandem wichtiger sein konnte, ein Kind zu bekommen als eine Rolling Stones-Platte zu produzieren. Und er wies darauf hin, daß Biancas Einfluß auf Jagger viel schlimmer sei als sich irgendjemand vorstellen könnte.``4
Happy, in den nächsten Jahren Keiths Themensong bei den Liveauftritten der Band, macht deutlich, daß selbst die Band jetzt nicht mehr die Zufluchtsstätte sein konnte, als die sie im Gegenentwurf zur Familie einmal konzipiert war. Mein Ziel mit diesem Vortrag ist es zu zeigen, daß auch dies noch als Metapher gelesen werden kann, als Metapher nämlich für die eigene Generation, die das utopische Versprechen der 60er Jahre, nämlich eine neue Form von Geborgenheit jenseits der Familie zu bieten, ebenfalls nicht einlösen konnte. Und in diesem Sinn ist der Begriff des Exils durchaus ernstgemeint: Für Keith war der Umzug nach Südfrankreich nicht nur Flucht vor Drogenpolizei und der Steuerfahndung, es war auch das Abgeschnittensein von der politischen und kulturellen Bewegung der 60er Jahre, deren Zusammenbruch sich als untergründiges Thema durch das ganze Album zieht.

Doch um dieser These Plausibilität zu verleihen, muß ich weit ausholen, bis zu den Anfängen im Jahr 1962, dem Gründungsjahr der Rolling Stones.

Die Anfänge

Musikbeispiel 2:  I'm a King Bee
Die Dekadenz des Jahres 1971 war der Band wahrlich nicht an der Wiege gesungen worden. Der Bassist Bill Wyman beschreibt in Stone Alone recht eindrücklich die Selbsteinschätzung der Band zu ihrer Anfangszeit im Jahr 1963:

,,Ich beschloß, ein paar Pressenotizen als kleine Erinnerung an meinen bescheidenen Erfolg für [meinen Sohn Stephen] aufzuheben [...]. Er sollte wissen, daß ich früher einmal in einer kleinen Musikgruppe mitgespielt hatte, die sogar mehrmals in Rundfunk- und Fernsehsendungen aufgetreten war, und daß es ein paar gar nicht so schlechte` Singles von uns gegeben hatte.``5
Daß mit schwarzem Rhythm'n'Blues jemals Ruhm zu ernten oder gar Geld zu verdienen war, konnte 1962 niemand ahnen, als sich Brian Jones, Keith Richards, Mick Jagger, Bill Wyman und Charlie Watts zu einer Band zusammenfanden und diese nach einem Song von Muddy Waters benannten. Die Welt, in der die frühen Rolling Stones beheimatet waren, war die eines musikalischen Undergrounds, von dem sich niemand vorstellen konnte, daß er jemals den Mainstream erreichen könnte.

Den Gepflogenheiten der Zeit, was den Auftritt einer ordentlichen, aufstrebenden Band anbelangte, gehorchten die Stones überhaupt nicht. Bill Wyman beschrieb später einen prototypischen Auftritt dieser Zeit:

,,Wenn wir einen Club dazu bringen können, uns auftreten zu lassen, kommen wir also an und bauen unsere Verstärker auf. Die andern tragen Sweater, Lederjacken und Jeans, und ich die Sachen, die ich zur Arbeit anhabe. Der Manager sagt uns dann: Werft euch in Schale, nur noch zehn Minuten bis zu eurem Auftritt, also los, zieht euch um.` Wir sagen ihm dann, daß wir so, wie wir sind, auf die Bühne gehen würden und er meint: Sehr witzig. Also los, geht euch umziehen.`

Wir haben diese drei gestohlenen Metallbarhocker dabei, und mit Mick vorne und Charlie hinten, setzen wir, Brian, Keith und ich, uns hin und spielen, als ob wir in der Probe wären. Jeder von uns hat ein Bier neben seinem Hocker, und wenn wir ein Stück beendet haben, trinken wir ein bißchen und zünden eine Kippe an. Die Besucher können es nicht glauben. Sie hören auf zu tanzen, stehen um die Bühne und starren uns an, wissen nicht, was sie denken sollen. Der Manager sagt dann: Prima, packt euren Kram zusammen; ihr habt fünf Minuten, um zu verschwinden, dann hetze ich euch meine Jungs auf den Hals.```6

Natürlich waren die Reaktionen nicht überall so desaströs, sonst hätten wir nie von den Rolling Stones gehört. Im März 1963 gelang es den Stones, ein quasi festes Engagement im Crawdaddy-Club in Richmond zu bekommen. Auch wenn das für das hippe London weit ab vom Schuß war, sprach es sich doch sehr schnell herum und innerhalb von zwei Wochen war der Laden brechend voll. Ein Augenzeuge beschreibt die Szenerie fogendermaßen:

,,Nur die Bühne mit ihren schwankenden Figuren ist beleuchtet, sonst ist der Raum dunkel. Vom Eingang her fällt ein Streifen Licht und zeigt schwitzende Tänzer, kauernde Gestalten am Boden, zeigt lange Haare, Wildlederjacken, Cowboyhosen und Chelsea-Stiefel.``7
Das Image, das die Stones zu dieser Zeit mehr oder minder unbewußt pflegen und das ihr Fanpublikum goutiert, war nicht das aufstrebender Popkünstler, sondern dasjenige jugendlicher Rebellen. Und genau dieses Rebellentum zeichnete vor allen anderen derartigen Gruppen aus.

,,Sie hauten mich um,`` berichtet der Tontechniker ihrer ersten Aufnahmen, Glyn Johns. ,,Sie hatten etwas Besonderes an sich. Natürlich war das die Musik, aber es waren auch sie selbst: Sie hatten nicht das Aussehen der Popstars, mit denen wir aufgewachsen waren. Sie sahen nicht besonders gut aus, eigentlich waren sie sogar ziemlich häßlich. Und ihr Einstellung - für die Zeit waren sie unglaublich rebellisch und sehr seltsam. Es war einfach ihre Erscheinung, ihre Kleidung, ihre Haare - ihre ganze Einstellung war offensichtlich, sobald du sie spielen sahst. Es war einfach ein komplettes pffft zur Gesellschaft und jedem und allem.``8
Wenn jemand etwas Einzigartiges zu verkaufen hat und es Interessenten für dieses Produkt gibt, dann wird sich auch jemand finden, der den Vertrieb für dieses Produkt übernimmt. Im Fall der Rolling Stones war dies Andrew Loog Oldham. Oldham verstand zwar nichts von Musik, aber er verstand etwas von Image. Seine Anfange lagen in der Modebranche, und zwar in einer Boutique namens Bazaar, die von Mary Quant geführt wurde. Für diejenigen, die mit dem Namen Mary Quant nichts anzufangen wissen: Mary Quant war die herausragende Modedesignerin der sogenannten ,,Swingin' Sixties``; ihre wichtigsten modische Errungenschaften waren der Minirock und die Hot Pants.9 Hier, in Mary Quants Bazaar, erlernte Andrew Loog Oldham, der als Schaufensterdekorateur arbeitete, sein Handwerk.

Oldhams großes Vorbild war Phil Spector, der legendäre Produzent, dessen ,,Wall of Sound`` den Sound der frühen 60er Jahre ebenso prägen sollte wie Mary Quants Minirock die Mode. Was Oldham allerdings an Spector faszinierte war nicht so sehr dessen musikalische Visionen, als vielmehr die erstaunliche Tatsache, daß Spector es als Produzent zu Ruhm und vor allem auch zu Geld gebracht hatte: Bereits mit 21 Jahren war Spector Millionär und der Gegenstand einer berühmten Reportage von Tom Wolfe.

Konsequenterweise versuchte Oldham auch, sofort auf den größten musikalischen Zug der Popgeschichte aufzuspringen. Als Handlanger von Brian Epstein machte er freiberuflich Pressearbeit für die Beatles. Doch dieser Claim war bereits abgesteckt, hier war nicht mehr wirklich viel zu holen, und so befand sich Oldham ständig auf dem Sprung, sein eigenes Ding aufzuziehen. ,,Ich wußte, wonach ich suchte,`` erinnerte sich Oldham. ,,Es war Sex.``10

Und so geht die Legende noch heute, daß Oldham die Stones als Sexsymbole vermarktete. Das ist richtig und falsch zugleich. Daß Oldham die Absicht hatte, Sex als Vehikel zum Verkauf für Platten zu machen, und daß er Jaggers Potential als androgynes Sexsymbol frühzeitig erkannte, steht außer Frage. Doch Sex allein war keine besonders originelle Zutat, um den Plattenverkauf anzukurbeln. Schon in den verhoergehenden Jahrzehnten hatten Dean Martin oder Elvis Presley ihren Sexappeal zur Umsatzsteigerung eingesetzt. Sex allein war keine wirksames Mittel, um auf dem Schallplattenmarkt für Teenager besondere Aufmerksamkeit zu erregen.

Doch die Stones hatten etwas, was alle Möchtegern-Dean Martins oder Elvise der frühen 60er nicht hatten, und dies war ihre unglaubliche Aggressivität. Natürlich war diese Aggressivität untrennbar mit der sexuellen Ausstrahlung von Brian Jones und Mick Jagger verbunden; doch das Entscheidende war die Aggressivität, nicht so sehr, daß diese Aggressivität auch eine sexuelle Komponente hatte.

Alexis Korner, der Vater des englischen Blues erinnert sich an die Anfangszeit:

,,Zu Beginn der Stones war Brian der Kopf des Monsters. Brian war bei den Auftritten unglaublich aggressiv. Damals war sein Haar ziemlich lang und er zog permanent eine Schnute, über die sich ein anzügliches Grinsen zog; und die meiste Zeit sah er unglaublich geil aus. Immer wieder sprang er mit dem Tamburin nach vorne, schlug es dir ins Gesicht und feixte dich an. Die Aggressivität machte schwer Eindruck. In seinen besten Zeiten war er auch ein sehr einfühlsamer Musiker, der außergewöhnlich gut langsamen Blues spielen konnte. Aber ich erinnere mich am meisten an seine Ich tret' dir in die Eier`-Haltung. Brian erzielte das, was er erreichen wollte, durch extreme Aggressivität, und es war wirklich extrem. Es war eine Herausforderung, wenn Brian auf der Bühne war und spielte, er forderte jeden männlichen Anwesenden dazu auf, ihm eine reinzuhauen. Das war wirklich und wahrhaftig das Gefühl, das man bekam.``11
Genau diese Aggressivität war es, die Oldham bewußt oder unbewußt vermarkten sollte. Und damit vermarktete er mehr, als er sich je in seinen kühnsten Träumen hätte ausdenken können, er vermarktete die Revolte einger ganzen Generation gegen die Generation ihrer Eltern.

Doch noch war es nicht so weit. Zunächst einmal machte Oldham einen ganz entscheidenden Fehler:

,,Er bestand darauf, daß sie, wie die Liverpooler Gruppen, identisch eingekleidet würden, und zwar mit Jackets, die ihre Hintern betonen. Das Ergebnis? Innerhalb von zwei Monaten hatte Oldham [...] funky aussehende Rythm'n'Blues-Musiker in fünf albern grinsende Teenager` in Schuluniformen verwandelt, die genausogut The Monkees` hätten heißen können.``12
Glücklicherweise war dieser Schwachsinn schnell wieder vorbei. Keith Richards war besonders angepißt und sorgte dafür, daß die Uniform nicht sehr lange hielt, indem er sie mit Schokoladenpudding und Whisky verkleckerte und im Umkleideraum auf dem Boden rumliegen ließ.

,,Komisch,`` erinnert sich Richards, ,,alle denken, daß Oldham unser Image kreierte, dabei versuchte er uns herauszuputzen. Andrew war uns in dieser Hinsicht zu Beginn keineswegs voraus - die Presse griff uns erst zu dem Zeitpunkt auf, als wir diese Hundezahnjacken und Lord John Hemden aus eigenem Antrieb abgelegt hatten. Erst dann begriff Andrew die vollen Konsequenzen davon und stellte sich voll dahinter. Danach machte die Presse die Arbeit für uns. Man mußte uns nur den Zutritt zu einem Hotel verweigern, um die ganze Sache ins Rollen zu bringen. Andrew beutete unser [bestehendes] Image aus, er selbst war keineswegs völlig auf der richtigen Spur. Mit diesen Jacken hätte er beinahe Scheiße gebaut.``13
Erst jetzt dämmerte Oldham, daß er die Stones nicht als neue Beatles aufbauen konnte; vielmehr mußte er sie als Anti-Beatles lancieren. Während die Beatles völlig entschärft worden waren und durchaus als ganz passable Schwiegersöhne herhalten konnten, lancierte Oldham die für eine gesamte Elterngeneration entscheidende Frage: ,,Würden Sie ihre Tochter einen Rolling Stone heiraten lassen?`` Natürlich hatte Oldham nur ein Ziel: Er wollte den Abscheu der älteren Generation vor den Stones dazu nutzen, um mehr Platten verkaufen; de facto aber betrieb er, hegelsch gesprochen, die Arbeit des Weltgeistes. Hier wurde ohne das Wissen der Akteure an dem Keil geschmiedet, der in den folgenden Jahren zwischen die erste Nachkriegsgeneration und ihre Eltern getrieben werden würde.

Das Rebellische, das die Stones in ihrer ersten Phase zwischen 1963 und 1967 verkörperten, war zu dieser Zeit noch überhaupt nicht mit einer politischen Agenda verbunden. Aber die Stones repräsentierten einen Nonkonformismus, der für einen Gutteil der Nachkriegsgeneration identifikationsstifend wirkte.

Exemplifizieren läßt sich dies etwa anhand von Bommi Baumann. Michael Baumann, genannt Bommi, war ein Berliner Politaktivist, der von der sogenannten ,,Gammlerszene`` über die Kommune I und den SDS dann zum bewaffneten Kampf in der Bewegung 2. Juni stieß. 1975 beschrieb er seinen Werdegang in der Autobiographie ,,Wie alles anfing``, eines der herausragenden Dokumente zum Verständnis der damaligen Zeit. Und wie Baumann feststellte, fing es gar nicht gut an:

,,Am ersten Tag, als alle Lehrlinge zum Baubüro gegangen sind und dann mit so 'nem Auto zu der Baustelle gefahren wurden, und auf der Fahrt zu dieser Baustelle ist mir plötzlich klar geworden, das machst du jetzt 50 Jahre. Es gibt kein Entkommen. Der Schreck hat mir ziemlich in den Gliedern gesessen, also ich habe immer eine Möglichkeit gesucht, rauszukommen.``14

,,Ich habe dann die Lehre abgebrochen und alle möglichen Jobs gemacht, also so bis 65, wo meine Geschichte dann anfängt, nicht mehr konform zu sein. Das fängt bei mir an über die Rockmusik eigentlich, über Medium Musik und mit langen Haaren. Da gab es die Beatles, Stones, Byrds oder so, Them gab es, Blues och, ich habe nicht nur Rock gehört, sondern auch die Blues-Leute wie John Lee Hooker oder so 'ne Typen.``15

In der damaligen historischen Situation war Rockmusik mehr als nur Eskapismus, das beschissene kulturelle Komplement zu einem beschissenen Leben. Musikgruppen wie die Stones dienten eben nicht dazu, einen Ausgleich zum widerwärtigen Ausbildungs- oder Berufsalltag zu bieten, der das Funktionieren innerhalb der Tretmühle um so sicherer garantierte. Sondern sie bestärkten eben diese Ablehnung der gesellschaftlichen Vorgaben, indem sie sich stellvertretend für ihr Publikum als Opfer des gesellschaftlichen Konformitätsdrucks inszenierten.

Die Repression, der sich ,,Gammler`` wie Bommi Baumann ausgesetzt sahen, war der Situation der Stones ziemlich äquivalent:

,,In dem Fall bei mir,`` schreibt Baumann, ,,also am Anfang in Berlin, war es ja so, daß es dir mit den langen Haaren plötzlich wie einem Neger gegangen ist, verstehst du. Die ham uns aus Kneipen rausgeschmissen, auf den Straßen angespuckt, beschimpft und sind hinterhergerannt, also du hast wirklich nur Trouble gehabt [...] und ewig Ärger, also auch mit wildfremden Leuten auf der Straße, denen ich nun wirklich nichts getan habe, war ja nun echt ein vollkommen friedlicher Mensch.``16
Die gleichen Erfahrungen machten die Stones permanent auch:

,,Ganz gleich, wo sie [auf Tour] anhielten, und ganz gleich, wie gesittet sie sich auch benahmen - sie wurden von offenen Beleidigungen und willkürlichem Hausverbot in Hotels, Restaurants und Cafés verfolgt. [...] Den Stones [blieb] keine andere Wahl, als Fernfahrerkneipen und Tankstellenimbisse aufzusuchen, wo sie in unmittelbaren Kontakt mit einer Öffentlichkeit gerieten, die es buchstäblich nach ihrem Blut dürstete.``17
Eine berühmte Anekdote aus dieser Zeit stellt die legendäre ,,Tankstellenepisode`` dar. Am 18. März 1965 hielt der Tourwagen der Stones in Stratford an einer Tankstelle und Bill Wyman fragte, wo den die Toilette sei. Der Tankstellenpächter erwiderte, daß die Toilette geschlossen sei und daß er ihn die Mitarbeitertoilette nicht benutzen lassen würde. Nach Aussage des Pächters sei dann der Rest der Band aus dem Wagen gestiegen, Jagger habe gesagt, ,,Wir pissen, wohin wir wollen`` und dann hätte Jones, Jagger und Wyman gegen die Wand der Tankstelle uriniert. Das Ganze führte dazu, daß die Stones wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses angeklagt und verurteilt wurden.

Die Differenz zu ,,Gammlern`` wie Bommi Baumann ist offensichtlich: Während die ,,Gammler`` dem Sadismus der sogenannten ,,anständigen Leute`` ungeschützt ausgeliefert waren, konnten die Stones derartige Zwischenfälle als kostenlose Werbung ausschlachten. Und noch ein zweites macht diese Episode deutlich: Ein Rolling Stone ist den Repressalien nicht alleine ausgesetzt. Wenn der Bassist angepöbelt wird, dann steht die Band ihm zur Seite. Hier wird nicht nur eine Alternative zum Konformitätsdruck, sondern auch eine Alternative zur Vereinzelung der sich aggressiv von ihrer Familie abgrenzenden Jugendlichen angeboten.

Den Massenmedien kommt in diesem Zusammenhang eine wichtige Vermittlungsfunktion zu. Dabei ist es völlig unerheblich, daß insbesondere die Boulevardpresse im Tonfall größten Abscheus über die Band berichtete, im Gegenteil. Daß derart lächerliche Ereignisse vor Gericht landeten und in der Presse großen Wind machten, untergrub sowohl die Autorität der Justiz wie auch der Presse, und damit der ganzen Generation, die sie repräsentierten. Die Botschaft, die für die Jugendlichen der 60er transportiert wurde, war glasklar: Die repressiven Erfahrungen, die wir machen, sind zum einen kein Einzelfall; und zum anderen müssen wir uns nicht alles gefallen lassen. Vermittelt durch die Massenmedien konnten Bands wie die Stones ex negativo für eine ganze Generation zum Vorbild werden.

Dieses Moment des Aufbegehrens angesichts willkürlicher Schikanen wurde im Umfeld von Stones-Konzerten während der Jahre 65/66 zusehends ritualisiert. Je mehr sich der Ruhm der Stones mehrte, um so öfter arteten die Konzerte in ritualisierte Krawalle aus. Paradoxerweise war der eigentliche Anlaß dafür der Schutz der Band vor ihren eigenen Fans. Angesichts hysterischer Teenager, die ihre Idole berühren oder gar Kleidungsstücke oder Haare oder Hautfetzen ergattern wollten, wurde es zunehmend notwendig, die Bühne abzuschotten, damit die Band überhaupt spielen konnte. Und das Verlassen des Veranstaltungsortes artete regelmäßig zu einem Spießrutenlaufen aus, bei dem die Musiker oft nur knapp und manchmal überhaupt nicht mehr mit heiler Haut davonkamen.

Allerdings waren in der Regel die zu diesem Schutz abgestellten Ordnungshüter den Stones und ihrem Publikum gegenüber nicht gerade sonderlich positiv eingestellt; was als Aufrechterhaltung von minimaler Ordnung bei den Konzerten begonnen hatte, artete recht schnell in pure Schikane gegenüber sowohl den Fans als auch der Band aus. Die Krönung war wahrscheinlich das Konzert in Ottawa 1965, wo eine 50 Mann starke Polizeikette auf der Bühne stand und buchstäblich die Sicht auf die Stones versperrte.18 Daß das Publikum unbefriedigt war, kann man nachvollziehen.

Musikbeispiel 3:  Satisfaction
Angesichts des Verhaltens der Ordnungshüter war es kein Wunder, daß es ständig zu Auseinandersetzungen kam. Als typisch kann etwa eine kleine Deutschlandtournee der Stones im September 1965 angesehen werden. Schon bevor die Stones am ersten Veranstaltungsort angekommen waren, gab es die ersten Auseinandersetzungen. Noch auf dem Flughafen in Düsseldorf sollten die Stones eine Pressekonferenz geben, die dann aber von der Polizei abgesagt wurde, nachdem zweihundert Teenager die Polizeisperren durchbrochen, Fenster eingeworfen, Türen aufgebrochen und Telefone aus der Wand gerissen hatten. Über das darauffolgende Konzert in Münster konnte man in der Presse lesen, daß die Hölle losgebrochen sei und das Konzert einem Hexenkessel geglichen habe. Das nächste Konzert in der Gruga-Halle in Essen beschreibt Stanley Booth mit den Worten: ,,Während in der Gruga-Halle sechstausend Fans randalierten, randalierten zweitausend draußen. Die drinnen hatten den Vorteil, nicht von Polizei zu Pferde niedergeritten zu werden.``19 In Hamburg konnte dann auch die berittene Polizei nicht verhinden, daß Autos umgeworfen wurden. Und in Berlin schließlich, dem Endpunkt dieser Minitour, wurde die Waldbühne komplett zerlegt, Hier lieferten sich Jugendliche Straßenschlachten mit der Polizei, in deren Verlauf 85 Fans festgenommen werden; 17 S-Bahnzüge wurden demoliert und zum Teil umgestürzt, der Sachschaden betrug fast ein halbe Million Mark.20

Bommi Baumann, der natürlich auch beim Waldbühnenkonzert dabei war, schreibt: ,,Nach diesem Rollingstonekonzert in der Waldbühne, wo alles zertrümmert worden ist, da ging es denn richtig los, daß bewußt scharf gemacht worden ist gegen uns.``21 Knapp zwei Wochen nach dem Stoneskonzert verhaftet die Polizei in Berlin fünf Leute aus der Gedächtniskirchenszene, weil sie den Slogan ,,Jesus war der erste Gammler`` mit Kreide an die Kirchenwand geschrieben hatten.22 Die Fronten waren abgesteckt.

Der große Durchbruch, der die Stones zur wichtigsten Band der 60er Jahre machte, ging allerdings einher mit einem Wandel in ihrer Musik, und zwar in einem recht merkwürdigen, widersprüchlichen Wandel, der aber in dieser Widersprüchlichkeit die Bedingung ihres Erfolges war. Einerseits fingen sie an, aus den recht eng gesteckten Grenzen des rohen, ungeschlachten Rhythm'n'Blues ihrer Anfangszeit auszubrechen; es ist nun nicht mehr das Wechselspiel zweier Gitarren, das den Sound der Stones prägt. Brian Jones mutiert in dieser Zeit vom Lead-Gitarristen der Stones zu ihrem Instrumentationshexenmeister. Auf einmal prägen Sitar, Cembalo, Marimba oder exotische Perkussioninstrumente den Sound der Band. Das machte die Musik für ein viel breiteres Publikum als die Londoner Undergroundszene attraktiv. Romantische Balladen wie Lady Jane bedienen auch ein weibliches Teenagerpublikum, das im Crawdaddy-Club wahrscheinlich einfach in Ohnmacht gefallen wäre.

Man könnte nun meinen, daß dieses Abschleifen der musikalischen Ecken und Kanten zu einer Zähmung der Stones überhaupt führten mußte. Doch das Gegenteil war der Fall; auch wenn das musikalische Aggresionsniveau etwas abgesenkt wurde, so waren die Stones klug genug, dies auf anderen Ebenen zu kompensieren. In den Songtexten wurde das Aggressionspotential stark angehoben. Mochte Lady Jane weibliche Teenagerherzen höher schlagen lassen, auf der Platte wird dieses Stück dann gerahmt von Stupid Girl auf der einen und Under My Thumb auf der anderen, zwei Extrembesipiele von Jaggers offen inszenierter Frauenfeindlichkeit, mit der sich wiederum frustrierte männliche Möchtegernmachos prima identifizieren konnten. Diesem Block cleverer Identifikationsangebote für die Jugend wurden dann heftige Attacken gegen die ältere Generation zur Seite gestellt:

Musikbeispiel 4:  Mother's Little Helper
Das war das Erfolgsrezept der Stones Mitte der 60er Jahre: Clevere, poppige Arrangements, wohldosierte Identifikationsangebote für eine unzufriedene, frustrierte Nachkriegs-Jugend und massive Angriffe auf alles, was deren Elterngeneration heilig war. Eigentlich lief alles prima, die Zeit war endlich gekommen, den Erfolg zu genießen. Und dieser Erfolg war hart erarbeitet. Eigentlich kann man sich überhaupt nicht vorstellen, wie das Arbeitspensum der Stones überhaupt menschenmöglich war: Allein im Jahr 1964 etwa spielten die Stones, neben zahlreichen Plattenaufnahmen und Fernsehauftritten, über 300 Shows. Jetzt, nachdem der wohlverdiente Erfolg eingesetzt hatte, konnte die Band endlich ausspannen. Doch dieses Ausspannen bekam ihr überhaupt nicht gut...

Das Imperium schlägt zurück

Im Herbst 1966 beendeten die Stones die praktisch seit 1963 ununterbrochene Auftrittsserie, um, von einigen wenigen kontinentaleuropäischen Shows im Frühjahr '67 einmal abgesehen, erst wieder im November 1969 auf Tour zu gehen. Dazwischen liegt ein personeller und musikalischer Niedergang der Band und eine der erstaunlichsten Wiederauferstehungen der Rockgeschichte.

Um die Gründe, für den Niedergang der Band zu benennen, genügt eigentlich ein Wort: Drogen. In der ersten Hälfte der 60er Jahre hatten Drogen, von Alkohol einmal abgesehen, noch kaum eine Rolle gespielt, zumindest nicht in dem Milieu, in dem die Stones sich tummelten, oder um es mit den Worten von Bommi Baumann zu sagen: ,,Zu der Zeit hast du auch viel gesoffen, is viel getrunken worden. Dope gab's ja ech nicht, 65, hat niemand gekannt.``23 Doch dann, in der zweiten Hälfte der 60er, waren Drogen auf einmal überall: klassische Musikerdrogen wie Marihuana oder Kokain, neue synthetische Drogen wie LSD und schließlich die Renaissance von Heroin prägten die jetzt einsetzende ,,psychedelische`` Ära.

Die Stones wurden in zweierlei Hinsicht Opfer dieses Drogenbooms. Zum einen direkt, durch den Konsum. Das Ende des Tourneestresses hinterließ eine Leere, die gefüllt werden wollte; besonders die beiden Vollblutmusiker Brian und Keith, deren sonstige Interessen etwas begrenzt waren, erwiesen sich als anfällig, während Mick Jagger in der Künstlerbohème und mit diversen Filmprojekten sich ein neues Betätigungsfeld suchte. Nicht, daß Jagger keine Drogen genommen hätte, aber sie drückten seinem Leben nicht den Stempel auf wie das bei Brian oder Keith der Fall war.

Brian hingegen befand sich auf einer abschüssigen Bahn: Das im frühen Morgengrauen geschossene Cover von Between the Buttons, dem ersten in aller Ruhe eingespielten Stones-Album, zeigt einen debil grinsenden, offensichlich bis an die Haarspitzen zugedröhnten Brian Jones zwischen den unausgeschlafenen Gesichtern der restlichen Bandmitglieder. Brian, der ursprünglich der Kopf der Band gewesen war, der dann mit seinen Instrumentationskünsten auf dem ersten Höhepunkt in der Karriere des Stones den Stücken von Keith und Mick seinen unverwechselbaren Stempel aufgedrückt hatte, dieser talentierte Musiker wurde immer mehr zu einem unzuverlässigen, psychotischen Junkie, der die Band nur noch belastet. Im Juni 1969 wird sich die Band, zu deren Musik Jones schon lange nichts mehr beigetragen hat, von im trennen; wenig später wird man ihn dann ertrunken in seinem Swimmingpool finden.

Genauso schlimm wie die persönlichen Verwüstungen, die die Drogen in der Band anrichten, sind die öffentlichen Reaktionen. Denn die Drogengeschichten geben jetzt der empörten Öffentlichkeit die Chance, ihren erklärten Feinden an den Karren zu fahren. Sensationspresse und Polizei arbeiteten Hand in Hand, um die Band, wo es nur ging, zu schikanieren. Und die Stones begingen den Fehler, sich auf einen Krieg einzulassen, den sie - noch nicht - gewinnen konnten: Den Krieg mit der Boulevardpresse.

Man kann die Bedeutung der Boulevardpresse, was die öffentliche Meinungsmache gegen die zaghaft aufbegehrende Jugend betraf, gar nicht hoch genug einschätzen. Und was in Deutschland die Bild-Zeitung war, waren in Großbritannien Blätter wie Daily Mirror oder News of the World, die sich als Volkes Stimme aufspielten.

Angefangen hatte die ganze Sache am 22. Februar 1967 mit einer Fernsehshow names Sunday Night at the London Palladium, einem Fernsehevent, wie man heute sagen würde, erster Güte. Die Show, die jede Woche von ungefähr 10 Millionen Zuschauer gesehen wurde, endete regelmäßig damit, daß sich alle beteiligten Künstler auf einer sich im Kreis drehenden Bühne zusammenfanden und freundlich ins Publikum winkten. Die Stones verweigerten sich dieser altehrwürdigen Tradition mit der Begründung, sie würden sich nicht zu einer Zirkusnummer degradieren lassen.

In der Woche nach der Ausstrahlung der Sendung waren die Leserbriefseiten der Boulevardzeitungen voll von Leserbriefen, die ihrem Abscheu über die Arroganz der Band keine Zügel anlegten. Die News of the World erkannte, daß sie mit den Stones auf eine Goldmine zur Steigerung der Auflage gestoßen war. Und so lauerte ein Reporter Mick Jagger in einer seiner Stammkneipen auf und entlockte ihm, zumindest wenn man dem daraufhin geschriebenen Zeitungsartikel glauben konnte, freimütige Äußerungen über den Konsum von Haschisch und LSD. Leider hatte der Reporter nicht nur Schwierigkeiten, LSD und Haschisch auseinanderzuhalten, er war wohl auch nicht in der Lage die Stones zu unterscheiden: Statt wie intendiert mit Mick Jagger, hatte sich der Schmierfink mit Brian Jones unterhalten.

Daß die Stones eine schlechte Presse hatten, war nichts Neues und eigentlich auch kein Problem, sondern Kalkül. In dieser speziellen Situation allerdings machte Mick Jagger einen ganz entscheidenden Fehler: Statt der eigenen Einsicht zu folgen, daß sich niemand für die Zeitung von gestern interessiert, beschloß er die News of the World wegen Verleumdung zu verklagen. so etwas mußte schiefgehen, wenn die Behauptung nur im Detail nicht stimmte, im Prinzip aber zutreffend war. Nicht lang darauf stürmten 18 Polizisten Keith Richards Haus, wo gerade eine kleine LSD-Party stattfand. Die News of the World lieferte einen derart detaillierten Exklusivbericht über die Razzia, daß klar war, daß sie einen Informanten im Haus gehabt haben muß und daß der Tip an die Polizei von der Zeitung gekommen war.

Im Mai wurde Anklage gegen Mick Jagger und Keith Richards erhoben, wobei die Anklage gegen Mick auf dem Fund von vier Amphetamintabletten in einer alten Jacke beruhte, während Keith vorgeworfen wurde, er hätte den Konsum von Haschisch in seinem Haus toleriert. Am 29. Juni erging das Urteil: 3 Monate Gefängnis für Mick Jagger, ein Jahr für Keith Richards.

Das Urteil war, selbst nach den Maßstäben der Zeit, grotesk. Und so erhielten die Stones von völlig unerwarteter Seite Unterstützung: Der Herausgeber der Times, William Reese-Mogg, prangerte das Urteil in einem Leitartikel mit dem poetischen, von William Blake entlehnten Titel ,,Wer flicht einen Schmetterling auf's Rad?`` als völlig ungerechtfertigt an. In der Revisionsverhandlung wurde Richards freigesprochen, Jaggers Strafe zur Bewährung ausgesetzt.

Das war jedoch nicht das Ende der Schikanen; ständig kam es zu neuen Razzien und Leibesvisitationen bei den Stones, im Fall von Brian Jones mehrmals mit Erfolg. Und die Stones veröffentlichten das wahrscheinlich schlechteste Album ihrer Karriere: Their Satanic Majesties Request.

Musikbeispiel 5:  Ausschnitt aus: Sing This All Together (See What Happens)
Man mag die Grauenhaftigkeit dieser Platte auf den Streß mit den Drogenprozessen zurückführen, doch das ist wenig plausibel. Die ganze Grundidee der Platte ist völlig vermurkst, und der Grund für dieses Vermurksen läßt sich mit einem Stichwort erklären: ,,Sergant Pepper's Lonely Hearts Club Band``. Die Stones versuchten auf den Hippie-Zug mit Love, Peace und Happiness aufzuspringen und ein psychedelisches Meisterwerk wie das magnum opus der Beatles zu produzieren. Jagger entblödete sich nicht einmal, zusammen mit Paul McCartney zum Maharishi Mahesh Yogi zu reisen, um dessen Weisheit aufzusaugen.

Diese Anbiederung an die Blumenkinder und den Summer of Love paßte einfach nicht zu den Stones. Auch wenn es damals nicht opportun erschien: Die Stones waren nun einmal die Bad Guys des Rock und übernahmen sich hoffnungslos bei dem Versuch, dem scheinbaren Zeitgeist hinterherzuhecheln.

Doch der Zeitgeist ging auch an den Blumenkindern vorbei. Im Jahr 1968 drehte sich der Wind um 180 Grad.

Street Fighting Men

Daß die Menschheit nicht in das Zeitalter des Wassermanns eingetreten war und der Kalte Krieg nicht durch ein paar Blumen im Haar zu überwinden war, stellte sich schon zu Beginn des Jahres 1968 heraus. Im Februar 1968 kommt es in San Francisco im Viertel Haight-Ashbury, dem Zentrum des Summer of Love vom vorigen Jahr, zu einer ersten Straßenschlacht zwischen Hippies und Polizei. Im März beginnt es an der Universität von Nanterre, von Mailand und Rio de Janeireo zu brodeln, weil Studenten verhaftet oder zusammengeschlagen oder, wie in Rio, gar erschossen werden. Im April werden bei Attentaten Martin Luther King ermordet und Rudi Dutschke schwer verletzt. Die Ermordung Martin Luther Kings führt zu Aufständen der schwarzen Bevölkerung in 125 Großstädten der USA, das Attentat auf Dutschke in Deutschland zu den sogenannten Osterunruhen, bei denen sich über 60000 Menschen Straßenschlachten mit der Polizei liefern, um die Auslieferung der Springerpresse, die für das Attentat verantwortlich war, zu verhinden. Der Mai beginnt nicht friedlicher. In Frankreich kommt es nach einer Protestkundgebung an der Sorbonne über Tage hinweg zu gewaltätigen Demonstrationen und Straßenschlachten.

Die ganze aufgestaute Wut und Frustration der Nachkriegsgeneration scheint sich in einem weltweiten reinigenden Gewitter entladen zu wollen. Die Stones erkennen, daß der Wind sich gedreht hat. Am 12. Mai 1968, einen Tag nach der großen Barrikadennacht in Paris und einen Tag, bevor in Frankreich der Generalstreik beginnt, stellen sie ihre neue Single vor.

Musikbeispiel 6:  Jumping Jack Flash.

,,Flowerpower war nur eine Haufen Kacke, so ist es doch.`` kommentierte Jagger später. ,,In Jumpin' Jack Flash` war nichts von Liebe, Frieden und Blumen zu entdecken, stimmt's?``24

Der Inhalt des Songs ist etwas dunkel. Er erzählt von einer harten, trostlosen Kindheit und davon, daß das alles nichts ausmacht, im Gegenteil, daß jetzt alles Klasse sei - wobei die letztere Behauptung eher wie Pfeifen im Wald anmutet. Jagger hat den Song später als Metapher für die ganzen Widrigkeiten mit den Drogengeschichten des vorhergehenden Jahres interpretiert. Wie dem auch immer sein mag, wichtiger als der Text war auf jeden Fall die Musik. Es ist vor allem das treibende Riff, das das Stück unverwechselbar macht. Dieses Riff, ursprünglich wohl ausnahmsweise nicht von Keith Richards, sondern Bill Wyman erfunden, peitscht das Stück nach vorne, wie seinerzeit das Riff von Satisfaction. Hier wird nicht mehr mit Sitar- oder Marimbaklängen herumgespielt, hier wird wieder böse Gitarrenmusik gemacht, wie zu den besten Zeiten.

Doch Jumpin' Jack Flash war eben nicht nur eine Rückbesinnung auf die alten Qualitäten der Stones; am ganzen Arrangement des Songs lassen sich grundlegende Verschiebungen in der Band bemerken. Zum einen kann man hören, daß Brian Jones abgeschrieben war: Jones instrumentaltechnische Raffinesse, die dieser in den Jahren 65/66 entwickelt hatte, war beiseite gewischt. Aber Keith und Brian fanden auch nicht zum Wechselspiel zweier einander sich gegenseitig ergänzender Gitarren zurück, das die frühen Aufnahmen prägte. Jumpin' Jack Flash lebt vielmehr von der raffinierten Verschlingung der Rhythmusgitarre und des Basses. Dadurch kommt eine Wucht in das Stück, die selbst früheren Monsterhits wie Satisfaction fehlt.

Dieser Verschiebung der Gewichte in der Band entspricht eine Verschiebung im Umfeld. Die Stones haben endlich einen Produzenten. Nominell waren die ganzen frühen Aufnahmen von Andrew Loog Oldham produziert, faktisch hatten zumeist die diversen Toningenieure der unterschiedlichen Studios und natürlich Keith Richards das Sagen. Bei Their Satanic Majesties Request hatten die Stones Oldham bewußt aus dem Studio geekelt, er erschien auch auf dem Plattencover nicht mehr als Produzent. Und nun hatten sie sich mit Jimmy Miller einen talentierten Produzenten an Bord geholt, mit dem sie zusammen die vier wichtigsten Alben ihrer Karriere einspielen sollten: Beggars Banquet, Let it Bleed, Sticky Fingers und schließlich Exile on Main Street.

Noch drei Tage vor der ersten Präsentation von Jumpin' Jack Flash hatte der Daily Express geunkt: ,,Es sieht schlecht aus für die Rolling Stones.`` Jetzt waren die bösen Buben zurück, und während um sie herum die Revolte tobte, stürzten sie sich kopfüber in die kreativeste Phase der gesamten inzwischen 40jährigen Bandgeschichte.

An Provokationen, die das Thema Jugend vs. Establishment in immer neuen Varianten durchspielte, mangelte es nicht. Beggars Banquet, dessen Veröffentlichung sich verzögerte, weil die Plattenfirma sich geweigert hatte, das ursprünglich geplante Toilettengraffiti-Cover zu veröffentlichen, begann gleich in der richtigen Tonlage: Sympathy For The Devil hieß der erste, wieder von einem Monsterriff vorangepeitschte Song. Stray Cat Blues ließ sich in unzweideutiger Weise über den Sex mit Minderjährigen aus und Street Fighting Man zollte, mit leicht ironischem Touch, den weltweiten Straßenkämpfen Tribut. Und neben Satanisten, Kinderschändern und Straßenkämpfern kamen selbst die Blues-Puristen nicht zu kurz: Mit Prodigal Son gelang den Stones die Coverversion eines Bluesongs, wie sie es bislang in ihrer Karriere noch nie geschafft hatten. Das war kein epigonenhaftes Nachspielen mehr, das war ein Tribut von gleich zu gleich: Die verlorenen Söhne, die sich schon zu lange dem Diktat Andrew Loog Oldhams gebeugt hatten, waren zu ihren Wurzeln zurückgekehrt.

Das nächste Album Let It Bleed, variierte nur die Themen von Beggars Banquet: Midnight Rambler war erneut etwas für die richtig üblen Burschen oder solche, die sich dafür hielten, Let it Bleed spielte wie gewohnt auf der Klaviatur sexueller Perversionen, Gimme Shelter brachte einen Hauch von politischem Bewußtsein an die Käufer und mit Love In Vain lieferten sie eine Coverversion der alten Bluesnummer von Robert Johnson, in der sie das Kunststück schafften, einerseits eine völlig eigenständige Version zu kreiieren, der man andererseits jedoch mit jeder Note den tiefempfundenen Respekt vor dem Genie Robert Johnsons anhört.

Das Sahnehäubchen für dieses Album war dann ihre zweite Version von You Can't Always Get What You Want, in der sie bewiesen, daß sie einfach alles bekommen konnten, was sie wollten, und wenn es der Londoner Bachchor war, dessen 60 Knabenstimmen allerliebst You Can't Always Get What You Want piepsten. Yaak Karsunke hat das später in einem (schlechten) Gedicht versucht auf den Punkt zu bringen:

Karl Marx im konzert

diese versteinten
verhältnisse dadurch
zum tanzen zwingen
daß man ihnen ihre eigne
melodie vorspielt`

Jagger jault auf der bühne
You Can't Always Get What You Want

:& dieses schwein (sagt Andreas)
wiederholt das solange
bis wir zu tanzen anfangen25

Was jetzt noch fehlte, war eine große Tournee, um das neue Material auch live zu erproben. Dazu mußten sich die Stones allerdings von Brian Jones trennen, der untragbar geworden war. Auf Let It Bleed ist Jones nur noch als Perkussionist für Midnight Rambler und als Spieler der Autoharp, eines Zitherinstruments auf You Got The Silver zu hören. Die Auflagen wegen seiner Drogenverurteilungen verhinderten außerdem eine Auslandstour, weshalb die Stones das offiziell machten, was faktisch schon der Fall war: Brian Jones war kein Rolling Stone mehr.

Für den 5. Juli hatten die Stones, zur Vorstellung des neuen Gitarristen Mick Taylor, ein kostenloses Konzert im Hyde Park angekündigt: Es sollte eine Trauerfeier für den zwei Tage zuvor verstorbenen Brian Jones werden. Die Stones spielten lausig und auch die ersten Konzerte der Amerika-Tournee, die dann im November begann, waren nicht gerade überragend, kein Wunder, denn zum einen waren die Stones lange nicht aufgetreten; und zum anderen standen sie vor einer völlig neuen Situation, die Keith folgendermaßen beschrieb: ,,Auf einmal [...] ist da ein Publikum, das zuhört, statt einem Haufen kreischener Mädels.``26

Victor Bockris, sein Biograph, faßte die Veränderungen etwas präziser zusammen:

,,Das Rockkonzert hatte sich verändert: Das Publikum hörte nun zu, hatte politische Anliegen, und konnte sich als unglaubliche und potentiell explosive Kraft zur Geltung bringen.``27
Allerdings waren die politischen Anliegen, die das Publikum der Stoneskonzerte umtrieben, wenig genau definiert; man wollte alles, aber nichts genaues. Ein Flugblatt, das während der Tour verteilt wurde, klang so:

,,Gruß und Willkommen den Rolling Stones, unseren Genossen im verzweifelten Kampf gegen die Irren, die die Macht besitzen. Die revolutionäre Jugend der Welt hört eure Musik und wird zu noch tödlicheren Handlungen inspiriert. Wir kämpfen als Guerillas gegen die einmarschiedenden Imperialisten in Asien und Südamerika, wir revoltieren überall bei Rock'n'Roll-Konzerten. Wir haben Los Angeles niedergebrannt und geplündert, und die Bullen wissen, daß unsere Heckenschützen zurückkehren werden.

Sie nennen uns Aussteiger und Kriminelle und Deserteure und Halbstarke und Kiffer und überschütten uns mit Tonnen von Scheiße. In Vietnam werfen sie Bomben auf uns und in Amerika versuchen sie, uns zum Krieg gegen unsere eigenen Genossen aufzustacheln, doch die Hundesöhne hören, wie wir euch auf unseren kleinen Transistorradios spielen und sie wissen, daß sie dem Blut und dem Feuer der anarchistischen Revolution nicht entkommen werden.

Wir werden eure Musik in Rock'n'Roll Kapellen spielen, während wir die Gefängnisse niederreißen und die Gefangenen befreien, während wir die staatlichen Schulen nierderreißen und die Schüler befreien, während wir die Militärstützpunkte niederreißen und die Armen bewaffnen, während wir den Wärtern und Generalen Burn Baby Burn! auf die Wänste tätowieren und eine neue Gesellschaft aus der Asche unserer Brände erstehen lassen.

Genossen, wenn ihr wieder in dieses Land zurückkeht, wird es von der Tyrannei des Staates befreit sein, und ihr werdet eure herrliche Musik in Fabriken spielen, die von Arbeitern geführt werden, in den Hallen leerer Rathäuser, auf dem Schutt von Polizeirevieren, unter den baumelnden Kadavern von Priestern, unter einer Million roter Flaggen, die über einer Million anarchistischer Gemeinschaften wehen. In den Worten von Breton: Die Rolling Stones werden die Zukunft sein! Lyndon Johnson - die Jugend Kaliforniens gibt sich ganz deiner Vernichtung hin! Rolling Stones - die Jugend Kaliforniens hört eure Botschaft! Lang lebe die Revolution!``28

Das ist lustig, und so sollte die Revolution auch sein: Ein großes, lustiges Fest, wie ein Rock'n'Roll-Konzert. Tatsächlich aber blieb die gesellschaftliche Utopie, die die sogenannten '68er entwickelten, in den Details recht vage: Weniger Gängelung und Bevormundung, mehr individuelle Freiheit, das Recht auf Lust und Genuß im Hier und Jetzt. Welche konkreten Formen das jedoch annehmen sollte, blieb unbestimmt. Allein die Gegner waren klar benannt: Eltern, Lehrer, Meister, Bullen, Militärs, Politiker, kurz: die gesamte Elterngeneration.

Das Problem war, daß der Minimalkonsens der Bewegung ein rein negativer war, nämlich der Kampf gegen diese Unterdrücker, und daß dieser Kampf nicht nur ein Mittel, sondern zugleich auch das Ziel war. Recht gut läßt sich das an den großen Schlachten der Bewegung, den militanten Demonstrationen ablesen. Diese waren nicht nur Anprangerung von Mißständen, Kenntlichmachung des Gegners, sie waren auch lustvolle Selbstvergewisserungen der Bewegung, das, was die Bewegung trotz der immer weiter aufreißenden inhaltlichen Differenzen zusammenhielt.

Peter-Paul Zahl hat im sechsten Kapitel seines Romans Die Glücklichen, das die schöne Überschrift ,,Keine Freude gleicht dem Aufruhr`` trägt, diese Gleichzeitigkeit von Zweck und Mittel dargestellt, die Einheit von symbolischem Angriff und Selbstvergewisserung. Nach gelungener Straßenschlacht trifft man sich dann an der Universität: ,,Manche von uns liegen erschöpft auf dem Rasen der TU, andere schütteln ihre [vom Pflastersteinwerfen] schmerzenden Arme aus. Einige singen die Internationale, andere Street Fighting Man.``29 Dieser Eventcharakter der Demonstrationen, wie man heute sagen würde, kommt nirgendwo besser zum Ausdruck als in der Antwort eines Reporters auf die Frage, wie er denn die Straßenschlachten während des Demokratischen Parteitags 1968 in Chicago empfunden habe: ,,Es war wie bei einem Rolling Stones Konzert.``30

Darin lag aber auch die Schwäche der Bewegung, daß sie diese Einheit in der Aktion nicht in die Einheit einer klaren politischen Zielsetzung ummünzen konnte. Zu Beginn des neuen Jahrzehnts zersplitterte die Bewegung in ungezählte, einander inhaltlich ausschließende Gruppierungen, während die Militanz, in Ermangelung klar definierbarer Ziele, in Teilen der Bewegung immer mehr eskalierte. Daß aus dem Spaß immer öfter blutiger Ernst wurde, mußten die Stones am Ende ihrer USA-Tournee schmerzhaft feststellen.

Zum Abschluß der Tour wollten die Stones, ganz im Zeichen der Zeit und in Erinnerung an das Woodstock-Festival und natürlich um dem während der Tour gedrehten Film ein dramatisches Ende zu verschaffen, ein kostenloses Konzert geben, zu dem sie eine Reihe anderer Bands einluden. Für Dramatik sollte gesorgt sein, allerdings nicht so, wie die Stones das geplant hatten. Das Festival von Altamont wurde nicht einfach ein Flop, es wurde ein Katastrophe. Schon die Örtlichkeit, eine abgewrackte Autorennbahn in den kalifornischen Bergen, war katastrophal, aber andere Örtlichkeiten standen entweder nicht zur Verfügung oder waren zu teuer. Dazu kam die, von wem auch immer aufgebrachte Schnapsidee, die Hells Angels als Ordner anzustellen. Es war grundsätzlich eine große Schwäche der Gegenkultur der 60er Jahre, Outcasts und Underdogs kritiklos zu romantisieren; und niemand hatte diese Romantisierung weniger verdient als die kalifornischen Hells Angels, die schlicht und ergreifend eine Vereinigung krimineller Psychopathen waren.

Das Festival selbst war miserabel organisiert. Es gab zu wenig Verpflegung und Toiletten, ,,die neunzehn Ärzte in ihren verstreuten Erste-Hilfe-Stationen waren schon allein durch die Opfer schlechter Drogen, die augenscheinlich von organisierten Syndikaten in Umlauf gebracht worden waren, überlastet. Die wenigen Vorräte an Gegenmitteln wie Thorazin gingen rasch zu Ende, und für die meisten Opfer konnte nichts anderes getan werden, als sie an mit Seilen abgesperrten Plätzen zu verwahren, wo sie sich wie halbtote Pestopfer schüttelten und in Schmerzen wanden.``31

Schon während dem Auftritt von Santana, der das Konzert eröffnete, begannen die Hells Angels Leute zusammenzuschlagen; beim Auftritt der Jefferson Airplane rotteten sie sich um einen jungen Schwarzen zusammen und schlugen dann Marty Barlin, den Sänger von Jefferson Airplane bewußtlos, als dieser von der Bühne sprang, um dazwischenzugehen. Als Jagger ankommt und vom Hubschrauberlandeplatz zur Bühne geht, wird er von einem durch billiges Acid verwirrten Jugendlichen mit den Worten ,,Ich hasse dich, du Arschloch. Ich bring' dich um.`` angegriffen. Den Flying Burrito Brothers gelingt es, die aggressive Stimmung etwas herunterzukochen, doch während des lausigen Auftritts von Crosby, Stills, Nash und Young kommt es wieder zu Schlägereien.

Es ist Dezember und selbst in Kalifornien wird es in den Bergen nach Einbruch der Dunkelheit arschkalt. Aus Überresten des Rennbahnzauns und Müll werden Feuer angezündet, eine stinkende Rauchwolke mit dem Geruch von brennendem Plastik legt sich über die Bühne. Der Autritt der Stones gerät zum Alptraum; Jagger macht den Fehler, trotz der gereizten, aggressiven Stimmung Sympathy for the Devil anzuspielen:

Musikbeispiel 7:  Altamont: Sympathy for the Devil
Der Auftritt versinkt immer mehr im Chaos. Vor der Bühne, gefilmt vom Kamerateam der Stones, ohne daß sie genau wußten, was sie da filmen, wird der junge Meredith Hunter von einem Hells Angel erstochen. Der Film Gimme Shelter zeigt die Szene, wie Jagger sich später die Filmaufnahmen ansieht:

Musikbeispiel 8:  Altamont: Der Mord an Meredith Hunter
Die Stones spielen verzweifelt weiter, denn, wie Mick Taylor sich später erinnert: ,,Wir wußten, daß es, wenn wir aufhören würden, wirklich zu einem Austand kommen würde.``32 Stanley Booth, der die Stones auf der '69er-Tour begleitete und später ein brilliantes Buch darüber verfassen sollte, erinnert sich:

Musikbeispiel 9:  Altamont: Kommentar von Stanley Booth
Das Altamont-Konzert entwickelte sich schnell zu einem Symbol, zu einem Symbol für das Ende der 60er mit allen ihren Hoffnungen, Provokationen, Utopien und Illusionen. Es ist nicht das Ereignis Altamont selbst, das dies alles unter sich begräbt. Tatsächlich hatte die Bewegung, die die Revolte des Jahres 1968 in Gang gebracht hatte, ihren ursprünglichen Schwung verloren und war ins Stocken geraten. Im Laufe der eineinhalb Jahre seit dem Mai '68 war es nicht geglückt, die Spontaneität der Revolte in ein tatsächliches politisches Projekt zu verwandeln. Stattdessen zersplitterte sich die Bewegung in unendlich viele verschiedene Fraktionen, die alle irgendwelche Rezepte propagierten, die sie aus der Mottenkiste linker Bewegungen der letzte zweihundert Jahre herauskramten. In diese Selbstzerfleischung passte Altamont wie ein Puzzlestein in eine vorbereitete Lücke, eine Lücke, die die Bewegung selbst schon, auch ohne Zutun der Stones, aufgerissen hatte. Wieder einmal werden die Stones zu einem Spiegel, in dem die Bewegung ihr eigenes Bild erkennen kann, doch dieses Mal erschrickt sie über das Bild, das sich ihr bietet.

Es ist kein Zufall, daß die mediale Verarbeitung von Altamont völlig anders verlief als früher, bei den mehr oder minder absichtsvoll inszenierten Provokationen der Stones. Für die bürgerliche Presse gab es an Altamont nichts herumzumäkeln: ,,Der San Francisco Chronicle bezeichnete das Altamont-Festival am nächsten Morgen als großartigen Erfolg, der nur durch einige Todesfälle geringfügig beeinträchtigt worden sei. Außer Meredith Hunter waren noch drei weitere Jugendliche zu Tode gekommen; zwei waren in ihren Schlafsäcken von einem Wagen überfahren worden, der dritte in einem Bewässerungsgraben ertrunken.``33 Nicht der klassische Gegner der Stones, die Boulevardpresse, machte Altamont zum Thema. Vielmehr waren es der Rockmusiksender KSAN und das Musikmagazin Rolling Stone, die das wahre Ausmaß der Tragödie an die Öffentlichkeit brachten. Damit hatte sich die ganze Konstellation, die die 60er Jahre geprägt hatte, grundlegend geändert.

Es ging nun nicht mehr darum, daß eine Jugend sich gegen die sinnlosen und überflüssigen Restriktionen, die ihnen eine heuchlerische Elterngeneration auferlegte, durch Witz, Provokationen und auch symbolische Gewalt auflehnte und dabei die feindlich gesonnenen Medien benutzen konnten. Die Kritik kam jetzt sozusagen aus den eigenen Reihen und war nicht nur berechtigt, sondern wurde auch ernst genommen. Tatsächlich war die Rebellion der 60er Jahre so weit fortgeschritten, daß die Protestgeneration lernen mußte, die Verantwortung für ihr Tun zu übernehmen. Dieser Lernprozeß sollte, mit einer Reihe von Verwerfungen, bis in die achtziger Jahre hinein dauern und größtenteils recht fragwürdige Resultate hervorbringen, wie man etwa an unserem aktuellen Außenminister sehen kann.

Bei Mick Jagger verlief der Lernprozeß schneller. Er, der auch als Individuum, nicht nur als Leitbild, der Bewegung am nächsten gestanden hatte und sogar bei der großen Vietnamdemonstration 1968 in London mitgelaufen war, entwickelte sich quasi über Nacht zu einem smarten Businessmenschen. Natürlich ist dafür nicht allein Altamont verantwortlich: Nachdem die Stones zwei hervorragende Alben veröffentlicht und eine, von Altamont einmal abgesehen, erfolgreiche Tour absolviert hatten, waren sie pleite. Plattenfirma und Management hatten sie über's Ohr gehauen, die Steuer war ihnen auf den Fersen, ebenso die Bullen, die es darauf anlegten, ihnen doch noch wegen Drogenvergehen an den Karren zu fahren. Angesichts dieser Widrigkeiten machte Jagger einen klaren Schnitt. Er feuerte das alte Stones-Management, setzte zuverlässige Leute für die Finanzverwaltung ein, gründete eine eigene Plattenfirma für die Band und bereitete den Gang in's Exil vor. Willkommen in den 70ern.

Die erste Platte auf dem neuen, eigenen Label, Sticky Fingers, kam an die beiden vorhergehenden nicht heran. Ich weiß, daß ich hier ein Sakrileg begehe, da für viele Sticky Fingers ihre Lieblings-Stonesplatte ist. Und auf Sticky Fingers finden sich wahrscheinlich mehr großartige Songs als auf jedem anderen Stones-Album. Brown Sugar, Wild Horses, Sister Morphine und Dead Flowers sind zurecht Hits, die praktisch jeder kennt, You Gotta Move, I Got The Blues und Moonlight Mile sind, obwohl nicht so bekannt, ebenfalls großartige Aufnahmen. Und doch, irgendwie fehlt Sticky Fingers das je ne sais quoi, das die beiden vorhergehenden Platten und dann vor allem Exile on Main Street auszeichnet. Irgendwie stimmt alles nicht so richtig zusammen; für mich hat es fast den Anschein, als ob die Songs, statt sich zu ergänzen, sich im Gegenteil wechselseitig neutralisieren. So paradox es klingt: Ich mag die Songs auf Sticky Fingers, aber ich lege das Album praktisch nie auf, weil ich es als Ganzes nicht hören mag. Und ich will hier auch überhaupt nicht versuchen, diesen zugegebenermaßen sehr subjektiven Eindruck dahingehend zu objektivieren, daß einige der Songs auf Sticky Fingers vor Altamont, und einige danach aufgenommen wurden.

Kehren wir lieber zurück zu harten Fakten: Am 6. Februar 1971 kündigen die Stones an, daß sie Großbritannien den Rücken kehren würden; Keith mietet in Südfrankreich eine Villa an, in der dann die Aufnahmen von Exile zu Main Street stattfinden werden. War Sticky Fingers eher Micks Platte gewesen, so ist Exile on Main Street ganz klar Keiths Baby. Während Mick der Londonor Bohème den Rücken kehrt, heiratet und hinfort das Leben der Reichen und Berühmten führt, wirft sich Keith voller Inbrunst seinen beiden großen Lieben in die Arme: Der Musik und dem Heroin. Was die Zukunft betraf, war diese menage à trois, nicht sonderlich glücklich; doch während der Aufnahmen von Exile wirkte sich das Heroin zumindest nicht störend auf Keiths musikalische Kreativität aus.

Exile ist musikalisch das glatte Gegenteil von Sticky Fingers: Das Doppelalbum enthält praktisch keinen Hit, von Tumbling Dice vielleicht einmal abgesehen, aber als Ganzes hinterläßt es einen überwältigenden Eindruck. Der Sound ist verwaschen, der nuschelige, kaum verständliche Gesang fast schon in den Hintergrund gemischt, die Texte, wieder mit Ausnahme von Tumbling Dice, kommen ohne die üblichen Provokationen aus. Statt dessen ist überall von Verzweiflung, Düsternis und Verfall die Rede. Schon das erste Stück, Rocks Off, gibt das Thema vor: ,,Mir geht nur noch einer ab, wenn ich träume, mir geht nur noch einer ab, wenn ich schlafe.`` Sweet Virgina beginnt mit den Worten: ,,Du schleppst dich durch den öden, stürmischen Winter und da ist nicht ein Freund, der dir da durchhilft. Du versuchst, die Wogen hinter deinen Augäpfeln zu glätten und wirfst deine Roten, wirfst deine Grünen und Blauen ein.``

Mit Exile on Main Street verarbeitet Keith das Ende der 60er Jahre und ihrer Illusionen mit einer Eindrücklichkeit, wie es sie in der ganzen Geschichte der sogenannten populären Musik vorher und nachher nie wieder gegeben hat.

Musikbeispiel 10:  Torn And Frayed
Exile schließt eine Epoche ab, noch bevor es die Epoche selbst gemerkt hatte. Für die Zeit allerdings, 1972, war das alles etwas zu starker Tobak. Als es herauskam, veriß die Musikkritik das Album beinahe einhellig, um erst Jahre später zu erkennen, daß die Stones mit Exile ihr letztes und größtes Meisterwerk abgeliefert hatten. Mick mag die Platte übrigens bis heute nicht besonders.

Nach Exile on Main Street haben die Stones inzwischen dreißig Jahre lang weiter Musik gemacht, und vielleicht hängen sie noch einmal dreißig Jahre ran. Dabei kamen, neben reichlich mittelmäßigen Platten auch einige passable und sogar die eine oder andere gute heraus. Doch all diese Musik ist bedeutungslos gegenüber dem ersten Jahrzehnt ihres Bestehens, in dem die Stones viel mehr waren, als einfach nur eine gute Band, nämlich ein Spiegel, in dem sich eine ganze Generation selbst erkennen konnte.


Footnotes:

1Victor Bockris, Keith Richards, o.O. (Da Capo Press), o.J. (Reprint der Ausgabe New York 1993), S.188f.

2Victor Bockris, Keith Richards, o.O. (Da Capo Press), o.J. (Reprint der Ausgabe New York 1993), S.18f.

3Philip Norman, The Rolling Stones. Die Geschichte einer Rock-Legende, München 1987, S.268.

4Victor Bockris, Keith Richards, o.O. (Da Capo Press), o.J. (Reprint der Ausgabe New York 1993), S.190.

5Bill Wyman und Ray Coleman, Stone alone. Die Insidergeschite der Rolling Stones, München 1990, S.5

6Wyman, zitiert nach Stanley Booth, The True Adventures Of The Rolling Stones, Chicago 2000, S.68.

7Zit. nach Willi Winkler, Mick Jagger und die Rolling Stones, Reinbek 2002, S.25.

8Glyn Johns, zit. nach Victor Bockris, Keith Richards, o.O. (Da Capo Press), o.J. (Reprint der Ausgabe New York 1993), S.59f.

9http://www.swinginchicks.com/mary_quant.htm

10Oldham, zit. nach Victor Bockris, Keith Richards, o.O. (Da Capo Press), o.J. (Reprint der Ausgabe New York 1993), S.62.

11Korner, zit. nach Stanley Booth, The True Adventures Of The Rolling Stones, Chicago 2000, S.68f.

12Victor Bockris, Keith Richards, o.O. (Da Capo Press), o.J. (Reprint der Ausgabe New York 1993), S.63.

13Richards, zit. nach Victor Bockris, Keith Richards, o.O. (Da Capo Press), o.J. (Reprint der Ausgabe New York 1993), S.66.

14Bommi Baumann, Wie alles anfing, Duisburg 1984, S.13.

15Bommi Baumann, Wie alles anfing, Duisburg 1984, S.9f.

16Bommi Baumann, Wie alles anfing, Duisburg 1984, S.10.

17Philip Norman, The Rolling Stones. Die Geschichte einer Rock-Legende, München 1987, S.113.

18Philip Norman, The Rolling Stones. Die Geschichte einer Rock-Legende, München 1987, S.113.

19Stanley Booth, The True Adventures Of The Rolling Stones, Chicago 2000, S.179.

20Wolfgang Kraushaar, Chronologie, in: Peter Mosler: War wir wollten, war wir wurden, Reinbek 1980, S.261f.

21Bommi Baumann, Wie alles anfing, Duisburg 1984, S.15.

22Wolfgang Kraushaar, Chronologie, in: Peter Mosler: War wir wollten, war wir wurden, Reinbek 1980, S.262.

23Bommi Baumann, Wie alles anfing, Duisburg 1984, S.20.

24Victor Bockris, Keith Richards, o.O. (Da Capo Press), o.J. (Reprint der Ausgabe New York 1993), S.144.

25Yaak Karsunke, da zwischen, Berlin 1979, S.34.

26Richards, zit. nach Victor Bockris, Keith Richards, o.O. (Da Capo Press), o.J. (Reprint der Ausgabe New York 1993), S.167.

27Victor Bockris, Keith Richards, o.O. (Da Capo Press), o.J. (Reprint der Ausgabe New York 1993), S.166.

28Zit. nach Stanley Booth, The True Adventures Of The Rolling Stones, Chicago 2000, S.142f.

29Peter-Paul Zahl, Die Glücklichen, Reinbek 1986, S.112.

30Stanley Booth, The True Adventures Of The Rolling Stones, Chicago 2000, S.90.

31Philip Norman, The Rolling Stones. Die Geschichte einer Rock-Legende, München 1987, S. 256.

32Taylor, zit. nach Philip Norman, The Rolling Stones. Die Geschichte einer Rock-Legende, München 1987, S.262.

33Philip Norman, The Rolling Stones. Die Geschichte einer Rock-Legende, München 1987, S.262.


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On 9 Jun 2003, 16:23.