Der folgende Text ist das Manuskript eines Vortrags, der am 8. November 2004 im Rahmen der jour fixe-Initiative Berlin in deren Reihe Klassen und Kämpfe gehalten wurde. Aufgrund der streckenweise hitzigen Diskussion würde ich inzwischen einige Dinge nicht mehr vertreten oder zumindest nicht mehr so formulieren. Für die Buchveröffentlichung der Reihe wird es deshalb eine revidierte Fassung geben, auf die man mich dann auch festnageln darf.
„Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.
Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und Leibeigener, Zunftbürger und Gesell, kurz, Unterdrücker und Unterdrückte standen in stetem Gegensatz zueinander, führten einen ununterbrochenen, bald versteckten, bald offenen Kampf, einen Kampf, der jedesmal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen.“ (MEW 4, S.462)
Das Kommunistische Manifest, das mit dieser Beschwörung des Klassenkampfes als der treibenden Kraft der Geschichte anhebt, ist ein großartiger, ja ein visionärer Text; und wer ihn noch nicht gelesen hat, sollte das schleunigst nachholen. Und doch: Diese Rede von der „Geschichte aller bisheringen Gesellschaft“ als einer „Geschichte von Klassenkämpfen“ ist völliger Humbug. Noch nicht einmal der Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus vollzog sich in der Form eines Klassenkampfes einer unterdrückten Klasse, des Bürgertums, gegen die alten Herrschenden, den Adel. In Holland und den Vereinigten Staaten nahm die Grundlegung des modernen Staates die Form eines antikolonialen Befreiungskampfes an; und selbst wenn man die beiden großen „bürgerlich“ genannten Revolutionen, die englische und die französische, genauer ansieht, dann richtete sich die Revolution mitnichten gegen den Feudalismus, sondern gegen eine durchaus moderne, wenn auch zu diesem Zeitpunkt nicht mehr zeitgemäße Form des Staates, den Absolutismus. Und selbst hier ging es letztendlich nicht darum, den Absolutismus abzuschaffen, sondern seine Auswüchse zu beschränken, das heißt, die Rechte des Parlaments gegenüber dem Souverän zu stärken. Anders ausgedrückt: Die englische und französische Revolution waren Revolutionen, die eine Form bürgerlicher Herrschaft, den Absolutismus, durch eine neue Form bürgerlicher Herrschaft ersetzten. Und die daraus letztlich resultierenden Diktaturen von Cromwell respektive Napoleon waren auch nicht gerade das Idealbild eines bürgerlichen Staates, der der Bourgeoisie freie Hand garantierte.
Das alles heißt nun nicht, daß ich die Realität des Klassenkampfes bestreiten will; was ich feststellen will ist dies: Die Revolution als sozusagen zugespitzteste Form des Klassenkampfes ist bestenfalls eine propagandistische Hypothese, die schon 1848, als Marx und Engels das Kommunistische Manifest verfassten, einer empirischen Prüfung nur sehr bedingt standhielt.
Trotz dieser aus gutem Grund zu bestreitenden Verbindung von Klassenkampf und Revolution, war der Klassenkampf eine historische Realität. Marx und Engels hatten, als sie das Kommunistische Manifest verfaßten, einen wirklichen Klassenkampf vor Augen: Den Klassenkampf der „working poor“ um ihre ökonomischen und politischen Rechte. Nur: die Behauptung, dieser Klassenkampf ließe sich in einer revolutionären Krise zuspitzen und würde dann den bürgerlichen Staat zusammen mit dem kapitalistischen Wirtschaftssystem hinwegfegen, war falsch. Es hilft hier auch nicht, mit irgendwelchen Könnte-, Hätte- oder Solltes herumzuoperieren: Die Grundannahme, daß der bürgerliche Staat des 19. Jahrhunderts sich als ebenso unflexibel erweisen würde wie der Absolutismus in den vorhergehenden Jahrhunderten, war schlicht und ergreifend falsch.
Der bürgerliche Staat erwies sich — auch wenn es dazu gelegentlich mehr oder minder heftiger Tritte an’s Schienbein bedurfte — als durchaus flexibel genug, um mit der technologischen und ökonomischen Entwicklung des Kapitalismus Schritt zu halten. Anders ausgedrückt: Um die elementaren Rechte der „working poor“ zu garantieren bedurfte es keiner Revolution; die Eroberung der oder zumindest die Teilhabe an der Staatsmacht war durchaus auf parlamentarischem Wege möglich. In der Auseinandersetzung zwischen Bernstein und Kautsky hatte Bernstein allemal recht. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte die Arbeiterbewegung in den kapitalistischen Zentren als Subjekt einer radikal antikapitalistischen Opposition faktisch ausgespielt.
Tatsächlich wurde die Verbindung von Klassenkampf und Revolution von Marx und Engels deutlich differenzierter gesehen, als dies die martialischen Eröffnungssätze des Kommunistischen Manifests glauben lassen. Den eigentlichen Kern ihrer Revolutionstheorie hat Marx 1859, in seinem berühmten Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie, folgendermaßen auf den Punkt gebracht:
„In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt [ . . . ]. Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den verhandenen Produktionsverhältnissen [ . . . ]. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein.“ [MEW 13, S.8f]
Diese Beschreibung trifft die anti-kolonialen bzw. anti-absolutistischen Revolutionen des 17. und 18. Jahrhunderts weitaus besser als eine verkürzte Klassenkampfrhetorik. Sowohl im einen wie im anderen Fall standen die Kosten der politischen Herrschaft in keinem Verhältnis mehr zu ihrem ökonomischen Nutzen, ja, sie hemmten die ökonomische Prosperität durch die bedingungslos geforderte und gewaltätig durchgesetzte Abgabenlast derart, daß der ebenso gewaltätige Befreiungsschlag dagegen unausweichlich wurde. Doch weder der absolutistische Hof noch die Kolonialverwaltung stellten in einem eigentlichen Sinne Klassen dar. Am ehesten kann man sie als ineffiziente Bürokratien beschreiben, deren Kosten in keinem Verhältnis zu ihrem Nutzen standen; tatsächlich förderten sie durch ihre Ineffizienz den Klassenkampf und ihre Beseitung wurde geradezu notwendig, um den Klassenkampf wieder einzudämmen und geregelte Produktionsverhältnisse zu installieren.
Anders ausgedrückt: Revolution ist nicht der Superlativ von Klassenkampf. Klassenauseinandersetzungen mögen in revolutionären Umbruchssituationen eine wichtige Rolle spielen, der Begriff der Revolution benötigt den des Klassenkampf jedoch nicht.
Um dies vielleicht an einem Beispiel der jüngeren Zeitgeschichte zu exemplifizieren: Der von uns zurecht ungern „Revolution“ genannte Zusammenbruch der DDR, muß im Sinne der Marxschen Begrifflichkeiten durchaus als Revolution bezeichnet werden: Die juristischen und politischen Verhältnisse des Realsozialismus „hemmten die Produktion, statt sie zu fördern. Sie verwandelten sich in ebenso viele Fesseln. Sie mußten gesprengt werden. sie wurden gesprengt.“ [MEW 4, S.467]
Warum sträubt sich dann alles in uns, trotz der unabweisbar kategorialen Übereinstimmung, die „Wende“ als Revolution zu bezeichnen? Es ist nicht allein der Mangel an gewaltätigen Auseinandersetzungen, der uns den Begriff der Revolution in diesem Falle so ungern verwenden läßt. Selbst dort, wo der politische Systemwechsel die Form bewaffneter Auseinandersetzung inklusive der Liquidierung des alten Staatsoberhauptes annahm, wie etwa in Rumänien, wird man konstatieren müssen, daß es sich um Revolutionen ohne Klassenkampf handelte.
Was uns — oder zumindest mich — daran hindert, den Zusammenbruch der Ostblockstaaten als Revolution zu bezeichnen, ist der Mangel des subjektiven Elements. Schon in der ersten Formulierung ihrer Revolutionstheorie hatten Marx und Engels formuliert, daß „zur Durchsetzung der Sache selbst eine massenhafte Veränderung der Menschen nöthig ist, die nur in einer praktischen Bewegung, in einer Revolution vor sich gehen kann; daß also die Revolution nicht nur nöthig ist, weil die herrschende Klasse auf keine andre Weise gestürzt werden kann, sondern auch, weil die stürzende Klasse nur in einer Revolution dahin kommen kann, sich den ganzen alten Dreck vom Halse zu schaffen & zu einer neuen Begründung der Gesellschaft befähigt zu werden.“ [MEGA2, Probeband, S.65]
Als heutige Linksradikale gehört für uns untrennbar zum Begriff der Revolution, daß die Revolution auch eine Weise der Selbsterziehung der revoltierenden Massen darstellt, wo die Beteiligten bestimmte Formen von Verantwortung lernen, neue Formen der Selbstorganisation entwickeln, kurz: nicht nur die Rechtsform verändern, sondern auch sich selbst und damit überhaupt die subjektiven Grundlagen einer neuen Gesellschaft schaffen. Für die Umwälzung der politischen Verhältnisse im Osten ist es genau dieser Mangel an subjektiver Veränderung, der uns gegenüber der Bezeichnung „Revolution“ mißtrauisch stimmt, nicht so sehr der Mangel an Klassenkampf in den Auseinandersetzungen.
Das wiederum heißt, daß wir heute den Begriff der „Revolution“ eigentlich nicht mehr als einen in einem stengen Sinn politischen Begriff verstehen, das heißt, unser Begriff der Revolution ist nicht mehr primär auf den Staat, der durch die Revolution erobert oder abgeschafft werden soll, fokusiert. Was uns, in der Nachfolge der 68er-Revolte ganz wesentlich interessiert, sind die Veränderungen, die mit den Menschen vor sich gehen, wenn sie sich in Opposition zu den bestehenden Mächten setzen.
Damit unterscheiden wir uns fundamental von den Strategen der alten Arbeiterbewegung. Deren Verhältnis zur revolutionären Organisation und auch zum Staat würden wir heute als ein rein instrumentelles Verhältnis qualifizieren, das mindestens ein ebensogroßer Teil des Problems wie es Teil der Lösung ist. Ich will im folgenden versuchen, den Übergang von einem objektivistisch-zweckrationalen zu einem subjektivistischen Revolutionsbegriff historisch nachzuvollziehen; dabei werden, so hoffe ich, sowohl die Stärken wie auch die eklatanten Schwächen unseres subjektivistischen Revolutionsbegriffes sichtbar werden. Doch trotz dieser eklatanten Schwächen werde ich dann zum Schluß — und ich muß zugeben, zu meiner eigentlichen Verblüffung — einen Vorschlag machen, wie das subjektivistische Modell in den gegenwärtigen Auseinandersetzungen um Hartz IV neue Aktualität gewinnen kann.
Das objektivistische Revolutionsmodell ist ein klares Zwei-Komponenten-Modell: Zum einen gibt es die in einen Klassenkampf gegen das Kapital verwickelte Arbeiterklasse; aus diesem Kampf gehen die Institutionen der Selbstorganisation der Arbeiterklasse hervor, die ich der Einfachheit halber unter dem Sammelbegriff Gewerkschaften zusammen fassen will, obwohl historisch deutlich mehr zu dieser Organisation gehört. Dieser Klassenkampf aber steht auf verlorenem Posten, wenn er nicht flankiert wird von einem politischen Kampf. Der politische Kampf, so die Theoretiker der Arbeiterbewegung, soll die partikularen Klassenkämpfe zusammenfassen und die Eroberung der Staatsmacht dann in die Tat umsetzen.
De facto wurde mit dieser Trennung von Gewerkschaft einerseits und Arbeiterpartei andererseits also anerkannt, daß das politische Projekt einer grundlegenden Veränderung der politischen Verhältnisse nicht naturwüchsig dem Klassenkampf entspringt. In der verschärftesten Variante dieser Theorie, der Parteitheorie Lenins, wird das Wissen um die Notwendigkeit der Revolution sogar von außen in die Arbeiterklasse hineingetragen, entspringt also nicht dem Klassenkampf, sondern einer intellektuellen Einsicht in die historische Unvermeidlichkeit der Revolution.
Dieses Modell kam aufgrund des 1. Weltkriegs schwer ins Wanken. Offensichtlich hatten sich die Arbeiterparteien schon so mit ihrer Rolle als zukünftige Träger der Staatsmacht identifiziert, daß sie im Zweifelsfall, das heißt im Falle des Kriegseintritts, sich statt mit der Arbeiterklasse mit der Nation identifizierten, die internationale Solidarität der Arbeiterklasse verrieten und sich dem, was sie für ihre patriotische Pflicht hielten, willig unterwarfen. Für die Linksradikalen in der Arbeiterbewegung war dies ein absoluter Schock. Damit war die Spaltung der Arbeiterbewegung in der Revolutionsperiode am Ende des 1. Weltkriegs vorbereitet. Allerdings spaltete sich die Arbeiterbewegung nicht in zwei, sondern faktisch in drei Teile: Zum einen haben wir zwei Flügel, die an der Verdopplung der Arbeiterbewegung im Partei-/Gewerkschaftsmodell festhielten; es sind dies der sozialdemokratische und der kommunistische Flügel. Der sozialdemokratische unterschied sich vom kommunistischen dadurch, daß er einen allmählichen politischen Übergang in den Sozialismus durch die Repräsentation im Parlament für möglich hielt. Der kommunistische Flügel hingegen betrachtete das Parlament nur als Tribüne revolutionärer Agitation und hielt an der revolutionären Option fest. Ironischerweise muß man festhalten, daß diese beiden Flügel der Arbeiterbewegung, die das Schwergewicht auf die Rolle der Partei legten, relativ fest in den Gewerkschaften, das heißt, der realen Bewegung der Arbeiterklasse und ihres Klassenkampfes verwurzelt waren.
Diese Verankerung im realen Klassenkampf gilt nicht für die dritte organisierte marxistische Kraft, die sich nach dem ersten Weltkrieg für einige Jahre etablieren konnte, die sogenannten Rätekommunisten. Rätekommunismus nannte sich diese Form des linken Radikalismus deshalb, weil sie sich von den Arbeiterparteien sozialdemokratischer oder kommunistischer Provenienz abgrenzen wollten. Grund genug dafür hatten sie: Zum einen war da der bereits erwähnte nationalistische Verrat der sozialdemokratischen Arbeiterparteien zu Beginn des Weltkriegs, zum anderen erwies sich im revolutionären Rußland die Diktatur des Proletariats immer mehr eine Diktatur der bolschewistischen Partei. Programmatisches Ziel der Rätekommunisten war es, die Trennung von Klassenkampf — das heißt Gewerkschaftsarbeit — und Parteipolitik aufzuheben. Selbstorganisation der Arbeitermassen von unten in einer, wie es hieß, Einheitsorganisation sollte die parteipolitische Stellvertreterpolitik ersetzen.
Hier begegnen wir zum ersten Mal innerhalb der marxistischen Tradition explizit einer Gewichtsverlagerung von einem instrumentell-organisatorischen Revolutionsbegriff hin zu einem subjektivistischen. Im Programm der Kommunistischen Arbeiterpartei Deutschlands (KAPD) hieß es explizit:
„Die subjekten Momente spielen in der deutschen Revolution eine entscheidende Rolle. Das Problem der deutschen Revolution ist das Problem der Selbstbewußtseinsentwicklung des deutschen Proletariats.“ [zit. Bock, S.102]
Um es in neuerer Terminologie auszudrücken: Die Rätekommunisten legten das Hauptaugenmerk darauf, eine „revolutionäre Identität“ herauszubilden, nicht darauf, effektive organisatorische Strukturen aufzubauen. Das brachte ihnen Sympathien vor allem von Seiten der durch den 1. Weltkrieg und seiner Folgen radikalisierten bürgerlichen Intelligenz ein.
Tatsächlich markierten die Rätekommunisten den Beginn der Loslösung des linken Radikalismus von der Arbeiterbewegung. Das klingt paradox, propagierten sie im Gegensatz zu den sozialdemokratischen oder kommunistischen Parteien in viel höherem Maße die Selbsttätigkeit der Arbeitermassen, in die sie ein viel höheres Vertrauen setzten als die Politbürokraten der traditionellen Parteien. Doch gerade dieses Vertrauen in die revolutionäre Spontaneität der Massen stellt die größte Hypothek des Rätekommunismus dar.
Das betrifft weniger die alten Hasen wie Pannekoek oder Rühle, die schon vor dem 1. Weltkrieg die bürokratisch-konterrevolutionären Tendenzen in der Sozialdemokratie bekämpft hatten. Diese glaubten keineswegs an eine irgendwie der Arbeiterklasse ontologisch innewohnende revolutionäre Spontaneität, sondern setzten vor allem auf Schulung und Aufklärung in Verbindung mit konkreter politischer Aktion; insofern nahmen sie das Kommunistische Manifest wörtlich, wo Marx und Engels geschrieben hatten:
„Die Kommunisten sind keine besondere Partei gegenüber den andern Arbeiterparteien. [ . . . ] Die Kommunisten sind [ . . . ] praktisch der entschiedenste, immer weitertreibene Teil der Arbeiterparteien aller Länder; sie haben theoretisch vor der übrigen Masse des Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung voraus.“ [MEW 4, S.474]
Es ist kein Zufall, daß die frühen Rätekommunisten sich weder aus dem Industrieproletariat rekrutierten noch der sozialdemokratischen Funktionärsbürokratie entstammten, sondern Akademiker oder Lehrer waren. Sie wollten die Arbeitermassen aufklären und zur Mündigkeit erziehen, wobei aber das Ziel der Erziehung weitestgehend feststand. Innerhalb der organisierten Arbeiterbewegung vor dem 1. Weltkrieg stellten sie noch eine verschwindende Minderheit dar.
Der Zusammenbruch des Wilhelminischen Reiches im 1. Weltkrieg sollte dies schlagartig ändern. In den Auseinandersetzungen um eine Neuorientierung der revolutionären Arbeiterbewegung wurden rätekommunistische Positionen so stark, daß Lenin, der in Rußland wahrlich genug zu tun hatte, sich mit seiner Schrift Der ‚linke Radikalismus‘, die Kinderkrankheit im Kommunismus vehement in die Debatte einklinkte. Ich will hier gar nicht näher untersuchen, wer damals tatsächlich recht hatte, sondern vielmehr die Frage stellen, warum rätekommunistische Positionen in den Jahren direkt nach dem 1. Weltkrieg auf einmal von einer Minderheitenposition zu einem durchaus mehrheitsfähigen Standpunkt werden konnten.
Dazu muß ich kurz soziologisch werden. Betrachten wir genauer, aus welchen gesellschaftlichen Gruppen sich die rätekommunistische Bewegung zu Beginn der 20er Jahre zusammensetzte. Hans Manfred Bock hat das Rekrutierungsfeld der Rätekommunisten in seiner Geschichte des ‚linken Radikalismus‘ in Deutschland folgendermaßen beschrieben:
„[ . . . ] die rätekommunistische Bewegung [war] geprägt durch den Zulauf jüngerer, im Krieg radikalisierter bürgerlicher Intellektueller. In der Regel kamen sie aus der Boheme [ . . . ] oder aus akademischem Milieu [ . . . ] über die Stationen der antibürgerlichen Revolte des Expressionismus oder der Jugendbewegung zur linken Opposition in der frühen KPD. Ihr Engagement war vergleichsweise labiler; es war vor allem bei der künstlerischen Intelligenz gegründet auf revolutionären Enthusiasmus, wurde geleitet von der Absicht, einerseits die besonderen künstlerischen Kommunikationstechniken in der Dienst der vermeintlich im Gange befindlichen Revolution zu stellen und andererseits von der Hoffnung, durch die Verbindung mit den proletarischen Massen über die revolutionären Inhalte zu neuen künstlerischen Formen zu gelangen.“ [Bock, S.94]
Wo sich die rätekommunistische Bewegung tatsächlich aus dem Proletariat rekrutierte, dann handelte es sich um „junge Arbeiter, die im Kriege Träger der revolutionären Propaganda und Agitation gewesen waren, aber noch wenig politische Erfahrung hatten.“ [Illustrierte Geschichte der deutschen Revolution, Berlin 1929, zit. Bock, S.93]
Bei dieser sozialen Zusammensetzung verwundert es nicht, daß in rätekommunistischen Kreisen ein bedingungsloser und jedem Kompromiß abholder revolutionärer Voluntarismus gepflegt wurde. Da die Selbstaufklärung der Massen in der Aktion zum entscheidenden Kriterium wurde, bekam der Klassenkampf als solcher einen überhöhten Stellenwert, gleichgültig, ob eine Chance auf einen Sieg bestand oder nicht. Diese Haltung trieb natürlich gewiefte politische Taktiker wie Lenin auf die Palme. Zurecht erregte sich der alte Fuchs:
„Den Kampf aufzunehmen, wenn das offenkundig für den Feind und nicht für uns günstig ist, ist ein Verbrechen, und Politiker der revolutionären Klasse, die nicht ‚zu lavieren, Übereinkommen und Kompromisse zu schließen‘ verstehen, um einem offenkundig unvorteilhaften Kampf auszuweichen, sind keinen Pfifferling wert.“ [LW, Bd.31, S.63]
Nur, was Lenin nicht sehen wollte: Bei den Rätekommunisten ging es gar nicht primär um Politik, um das Abschätzen von Kräfteverhältnissen, um Bündnisfragen, um Taktiereren, letztlich: um die Eroberung der Macht. Vielmehr taucht bei den Rätekommunisten zum ersten Mal im 20. Jahrhundert das Phänomen einer radikalen Identitäts-Politik auf. Wichtiger als die realistische Chance, eine politische Auseinandersetzung zu einem vorteilhaften Ende zu führen, war der Akt der Revolte selbst, nicht ein klares revolutionäres Ziel. Deshalb wurde bedingungslos auf revolutionären Prinzipien beharrt. An die Stelle einer klaren Zielvorstellung trat das Phänomen der radikalen Abgrenzung von allem, was nicht das Gütesiegel „garantiert revolutionär“ trug.
Wahrscheinlich muß man hier unterscheiden zwischen den alten Vorkriegsradikalen wie Pannekoek und den durch den Krieg und die sich anschließenden Revolutionswirren radikalisierten Jungrevolutionären. Die alten Revolutionäre konnten genügend Gründe dafür angeben, warum sie der sozialdemokratischen Partei, aus der sie schließlich selbst kamen, keinen Meter über den Weg trauten. Und die Geschichte sollte ihnen völlig recht geben, was ihr Mißtrauen gegenüber der bolschewistischen Partei in Rußland betraf.
Anders verhielt es sich mit der jungen Bourgeoisie, die durch die Erfahrung der Weltkriegsgräuel radikalisiert, meinten, sich der Arbeiterbewegung anschließen zu müssen. Die Identitätskrise der jungen Bourgeoisie hatte schon geraume Zeit vor dem Weltkrieg, gegen Ende des 19. Jahrhunderts eingesetzt. Ich will hier gar nicht genauer auf die Stimmung des fin de siècle eingehen, auf die künstlerischen, literarischen, musikalischen und philosophischen Experimente, den Begeisterungstaumel, als der Weltkrieg die als lähmend empfundene alte Ordnung hinwegfegte, der Umschlag dieser Begeisterung in Entsetzen angesichts der Realität des Krieges, die Annäherung an die radikalen Teile der Arbeiterbewegung, die versuchten eine internationale anti-imperialistische Agitation gegen den Krieg in Gang zu bringen.
Für diese junge Bourgeoisie hatte ihr Engagement in der revolutionären Arbeiterbewegung eine andere Bedeutung als für den normalen sozialdemokratischen Arbeiter, der sich von Gewerkschaften und Partei einfach eine Verbesserung seiner Lebensumstände erhoffte, zur Not auch unter Zuhilfenahme revolutionärer Gewalt, wenn es denn nicht anders gehen sollte. Für die junge Bourgeoisie ging es um etwas anderes: Um eine eigenständige Neudefinition ihrer Rolle in der Gesellschaft. Sie wollten nicht nur eine neue, besser organisierte Gesellschaft, sie wollten auch sich selbst neu erfinden. Waren es in der Vorkriegszeit vor allem künstlerische Mittel, die zu dieser Neuerfindung der eigenen gesellschaftlichen Rolle beitragen sollten, so vermengte sich nach dem Krieg das künstlerische Moment untrennbar mit dem politischen, die ästhetische Revolte mit dem Pathos der kommunistischen Revolution.
Aus dieser Perspektive gewinnt die Betonung der Spontaneität der Massen, wie sie die Rätekommunisten gegen die Sozialdemokraten und Kommunisten als entscheidendes Differenzmerkmal hervorhoben, eine völlig neue Bedeutung. Ich hatte vorhin schon darauf hingewiesen, daß bei den Vorkriegsrätekommunisten die Ablehnung der Partei auf reale Erfahrungen mit der Parteibürokratie zurückzuführen waren. Für die Jungen hingegen ging es um etwas ganz anderes: Die Schaffung eines neuen Menschen im direkten Kampf gegen die alte Ordnung. Mit Klassenkampf im engeren Sinne hatte das wenig zu tun. Der Bourgeois war aus diesem Blickwinkel nicht der Feind, weil er ein Kapitalist, sondern weil er ein persönlich widerwärtiger, ekelhafter Spießer war — man braucht sich nur die Bilder von George Grosz in Erinnerung rufen. Und der Proletarier war nicht deshalb berufen, die alte Ordnung umzustoßen, weil sie ihn aller notwendigen Rechte beraubte und ihm nur die minimalsten Subsistenzmittel zugestand, sondern weil er das Urbild des schöpferischen Menschen schlechthin war.
Mit anderen Worten: Es ging — zumindest für diese Fraktion innerhalb der revolutionären Bewegung der frühen 20er Jahre — nicht um Klassenkampf, sondern um Kulturrevolution. Und anders als bei einer politischen Revolution ist das Ziel einer Kulturrevolution recht vage und unbestimmt. In einer politischen Revolution geht es darum, die Macht zu erobern, und dann, mit Hilfe dieser Macht, die Gesellschaft so umzugestalten, daß sie transparent, gerecht und friedlich funktionieren kann. Historisch-empirisch gesehen hat das noch nie geklappt. Kulturrevolutionen haben es da einfacher und schwerer zugleich: Da sie kein klar definiertes Ziel haben, müssen sie sich in der Realität auch nicht an diesen Zielen messen lassen. Andererseits läßt sich aber auch nicht sagen, wie weit man mit seinen Anstrengungen schon gekommen ist.
Für die Rätekommunisten jedenfalls läßt sich, aus der Distanz von 80 Jahren sagen, daß sie gescheitert sind. Als die revolutionäre Welle 1923 abflaute, zerbröckelte auch die rätekommunistische Bewegung, ohne bemerkenswerte politische Spuren zu hinterlassen. Erst in der 68er-Bewegung wurde ihr Modell einer als Klassenkampf getarnten Kulturrevolution wieder entdeckt.
Wenn wir verstehen wollen, warum in der sogenannten 68er Revolte implizit oder explizit das zentrale Thema der Rätekommunisten, die Selbstorganisation der Revolutionäre von unten, wieder aufgegriffen wird, sich jetzt aber endgültig von der Verbindung mit dem Klassenkampf löst, müssen wir uns zunächst einmal mit der veränderte Gestalt des Kapitalismus nach dem 2. Weltkrieg beschäftigen.
Es wäre ein verhängnisvoller Fehler, würde man den Kapitalismus als ein mehr oder minder statisches System anzusehen. Es gibt nicht nur eine innerkapitalistische Geschichte, sondern der Kapitalismus selbst ist die geschichtliche Produktionsweise schlechthin. Deshalb sind auch — dies nur nebenbei bemerkt — die Theorien der sogenannten Wertkritiker so armselig, weil sie keinerlei Begriff von Geschichte haben, sondern sich an dürre, ahistorische Abstraktionen wie Wertform oder Tausch klammern.
Die ’68er Studentenbewegung war weder eine ’68er- noch eine Studentenbewegung. Vielmehr begann diese Bewegung bereits in den 50er Jahren und sie war keine Studenten- sondern eine Jugendbewegung. Ermöglicht wurde sie durch das neue Modell des Nachkriegskapitalismus, das auf Massenkonsum setzte. Das der kapitalistischen Produktionsweise inhärente Problem der Überproduktionskrisen sollte durch ein permanentes Wachstum des Konsumgüterbereichs wenn schon nicht behoben, so doch abgemildert werden. Die Massenproduktion von Autos, Kühlschränken, Waschmaschinen, Fernsehgeräten und Reihenhäusern wurde kombiniert mit Werbung und Kreditvergabe: Der Kapitalismus begann, nachdem er sich bis zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts den Produktionsprozeß völlig unterworfen hatte, nun auch den Konsumtionsprozeß nach seinem Bilde zu gestalten. Zum alten kapitalistischen Imperativ des „Arbeite!“ gesellte sich nun der komplementäre neue Imperativ des „Konsumiere!“.
Dies hatte einen unbeabsichtigten und unerwarteten Effekt: Der gesteigerte Massenkonsum entwertete unter der Hand den gesellschaftlichen Stellenwert der Arbeit. Interessanterweise wurde das damals nur zur Hälfte begriffen: Die Entwertung der Arbeit wurde von den damaligen Gesellschaftstheoretikern — mit Rückgriff auf den jungen Marx — als „Entfremdung der Arbeit“ gedeutet und auf die Veränderung des Arbeitsprozesses durch dessen reelle Subsumtion unter das Kapital zurückgeführt. Die Aufwertung der Nicht-Arbeit, der Freizeit, wurde jedoch kaum beachtet, und wenn doch, dann nur unter dem Aspekt des Verfalls kultureller Werte und Standards, die durch den Massenkonsum drohe. Die durch die Evolution des Kapitals selbst erzwungene Umwertung der bürgerlichen Werte, weg von der Arbeit hin zum Konsum, die diese beiden Themenkomplexe verband, geriet nicht in das Blickfeld.
Verborgen bleiben konnte dieser Zusammenhang recht lange, weil die Zangenbewegung, die die bereits abgeschlossene Kolonialisierung der Arbeitswelt durch die Kolonialisierung der Privatsphäre ergänzte, bei der älteren Generation, die ihr Arbeitsethos noch in der ersten Hälfte des Jahrhunderts oder in der direkten Nachkriegszeit eingebläut bekommen hatte, recht gut funktionierte. Für die junge Generation hingegen klaffte zwischen den beiden Imperativen „Arbeite!“ und „Konsumiere!“ ein ungeheurer Widerspruch. Während die Älteren sich, bei aller Konsumfreude, immer noch durch ihre Arbeit definierten, stand der jüngeren Generation, die bereits in den Reihenhäuern mit Autos und Fernsehern aufgewachsen war, der Sinn nach etwas anderem. Für sie fand das eigentliche Leben außerhalb der Arbeit statt: Der keynesianische Kapitalismus hatte, von der älteren Generation kaum wahrgenommen, die Reproduktionssphäre durch die Ausdehnung des Konsums völlig umgewertet. Faktisch diente die Zeit außerhalb der eigentlichen Arbeit nun nicht mehr allein der bloßen Reproduktion der Arbeitskraft, sondern verwandelte sich in etwas historisch völlig Neuartiges: In Freizeit.
Die Entstehung einer „Gesellschaft des Spektakels“, wie diese neue Entwicklung von den Situationisten damals bezeichnet wurde, änderte zwar nichts am kapitalistischen Charakter der Produktionsweise, veränderte aber grundlegend das Selbstverständnis der gesellschaftlichen Individuen: Wenn sich die Menschen nicht mehr durch ihre Arbeit, sondern durch ihren Konsum definierten, dann war es in die Hände der Individuen selbst gelegt, welche Rolle sie innerhalb dieses neuen, „spektakulären“ Kapitalismus spielen wollten. Daß der Existentialismus mit seiner Betonung der „Entscheidung“ und der „Wahl“ sich als Modephilosophie der 50er Jahre etablieren sollte, ist im nachhinein nur zu verständlich.
Dieser sich hinter dem Rücken der Individuen durchsetzende Umbau des Verhältnisses von Arbeit und Konsum führte, wie noch jede Veränderung in der Struktur der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse, zu gesellschaftlichen Reibungen, die sich dann in der sogenannten ’68er-Revolte entladen sollten. Doch der eigentlichen Boden für diese Eruption wurde bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit bereitet, in der unterschiedlichen Wahrnehmung der gesellschaftlichen Realität, die die Nachkriegsgeneration von der Vorkriegsgeneration unterschied: Die eigene Identität war nun nicht mehr primär durch die Klassenzugehörigkeit definiert, sondern durch das jeweilige Warensegment, für dessen demonstrativen Konsum man sich entschieden hatte. Bestimmte Kleidung, die man trug, bestimmte Musik, die man hörte, bestimmte Filme die man sah, kurz: all das, was sich in den 50er Jahren an Jugendkultur zu entwickeln begann.
Natürlich war es schon immer die Kultur, also diejenige gesellschaftliche Sphäre, die Marx den „Überbau“ nennt, durch die die Integration der Individuen in die Gesellschaft vermittelt wurde. Doch dieser kulturelle Überbau war bis zum zweiten Weltkrieg eng gekoppelt an die Rolle der Individuen im Produktionsprozeß. Der „Hoch“-kultur des Bürgertums stand eine Arbeiterkultur oder die Unkultur des Kleinbürgertums gegenüber, die nicht nur der Reproduktion der Arbeitkraft dienten, sondern auch das jeweilige Rollenverständnis einübte. In dem Maße nun, in dem der kapitalistische Produktionsprozeß sich die Sphäre des Konsums einverleibte und den Alltag der Menschen jenseits des eigentlichen Produktionsprozesses nach seinem Bilde umzuformen begann, in dem Maße begann die alte Funktion der Kultur zu erodieren.
Insbesondere die neuen, im 20. Jahrhundert neu entstehenden Medien des Films, der Schallplatte, des Radios und schließlich des Fernsehens transportierten prinzipiell keine klassenspezifischen Inhalte mehr, sondern „allgemein-menschliche“ — schon allein aus dem Grund, sich einen maximalen Absatzmarkt zu erschließen.
Reflektiert wurde das damals auf unterschiedlichen Ebenen. Die Ersetzung der klassenspezifischen Kulturen durch eine einheitliche, standardisierte Massenkultur wurde von den Apologeten des Systems als Ende der Klassenunterschiede und einer schönen neuen Welt jenseits der alten „Ideologien“ des Klassenkampfes gefeiert. Für die Kritiker des Systems hingegen, egal ob von rechts oder von links, wurde das Ganze als allgemeiner kultureller Verfall interpretiert, aus dem es kein Entrinnen mehr geben könne. Die intelligenteste Variante dieses „Kulturpessimismus’“ war zweifellos die von Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung entwickelte „Kulturindustrie“-Theorie. Doch selbst hier erschien, bei aller dialektischer Finesse, die Ausbreitung der Massenkultur nur als endgültiges Mittel, jegliches Klassenbewußtsein auszutreiben und die Individuen mit dem Bestehenden gleichzuschalten.
Doch der Weltgeist ist dialektischer, als sich dies Adorno und Horkheimer träumen lassen wollten. Um eine lange Geschichte kurz zu machen: Die Entwicklung der Gegenkultur in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg, zunächst die der Beatniks, dann des Rock’n’Roll, der Hippies und einer ganzen Reihe andere „Jugendkulturen“ stellt sich, im Nachhineinen, als Restitution des identitätsstiftenden Charakters der Kultur dar, nun aber losgelöst vom eigentlichen Produktionsprozeß. Waren zuvor die kulturellen Differenzen ein Abbild der Klassenunterschiede, so entstand nun ein Universum mehr oder minder frei wählbarer kultureller Unterschiede, das sich von seiner Bindung an den Produktionsprozeß gelöst hatte. Auch wenn gewisse Erinnnerungsspuren an den Klassencharakter von Kultur in den Jugendkulturen erhalten blieben, die entscheidende Neuerung war, daß die Dichotomie Jugend vs. Establishment die Klassengegensätze wenn schon nicht vollständig ersetzte, so doch deutlich überformte.
Hier ist dann auch der Anknüpfungspunkt zur rätekommunistischen Bewegung der frühen 20er Jahre zu finden: Der jungen Bourgeoisie war spätestens im 1. Weltkrieg ebenfalls der kulturelle Refrenzrahmen, den sich das Bürgertum im 19. Jahrhundert gegeben hatte, verlorengegangen. Das „Schöne, Wahre und Gute“ war in den Schützengräben von Flandern vollständig pulverisiert worden. Das daraus resultierende Identitätsvakuum wurde dann, zumindest bei Teilen dieser Generation zunächst durch künstlerische, dann auch politische Revolten gefüllt.
Es wäre also völlig verfehlt, wollte man „Jugend“ in diesem Sinn als ein biologisches Phänomen deuten. „Jugend“, wie sie um die Zeit des 1. Weltkriegs zunächst von jugendlichen Bourgeois, dann in den 50er und 60er Jahren auf breiterer gesellschaftlicher Basis herausbildet, bezeichnet diejenigen Individuen, die einem neuen Modus der „Identitätsfindung“ unterworfen werden. Die Entwertung der Arbeit zugunsten der Freizeit sorgte dafür, daß die Möglichkeiten zur Herausbildung einer „Identität“ nun nicht mehr durch den engen Rahmen der Klassenzugehörigkeit abgesteckt war, die schon dafür sorgte, daß die jeweilige „Identität“ innerhalb enger Grenzen eingeübt wurde. Die kapitalistische Kolonialisierung der Lebenswelt führte dazu, daß die eigene „Identität“ prinzipiell im Rahmen der allgemeinen „Freiheit des Konsumenten“ zu wählen war.
Dieser Prozeß verlief keineswegs reibungslos, da die Kulturindustrie aufgrund der dem kapitalistischen Produktionsprozeß inhärenten Standardisierungstendenz zunächst dazu neigte, auch die identitätsstiftenden Kulturwaren zu standardisieren. In dem Maße, in dem die Ausbreitung der Massenkultur den spezifischen Klassencharakter der kulturellen Waren auslöschte, untergrub sie ihre eigene gesellschaftliche Funktion, zur Identitätsbildung der gesellschaftlichen Individuen beizutragen.
Jede Identitätsbildung ist zugleich eine Abgrenzung, die Unterscheidung zwischen denen, die dazugehören und denen, die ausgeschlossen werden. Die Kulturindustrie aber versuchte in ihrer naiven Anfangszeit, den Kundenkreis möglichst breit zu gestalten, das heißt, alle anstößigen Formen und Inhalte zu eliminieren, um den Kreis potentieller Konsumenten so weit wie möglich zu fassen. Damit aber unterlief sie ihre eigene gesellschaftliche Funktion, nämlich Waren zu produzieren, mit deren Kauf die Individuen ihre Differenz zu anderen Individuen dokumentieren konnten. Statt durch die Möglichkeit der Abgrenzung Identität zu stiften, arbeitete die Kulturindustrie aller Differenzierung dadurch entgegen, daß sie Unterschiede abschliff und den kulturellen Einheitsbrei des „Mainstream“ auftischte.
Die Entwicklung der Gegenkulturen in den 50er und 60er Jahren entsprang genau diesem dem keynesianischen Kapitalismus inhärenten Widerspruch, daß die Identitätsbildung der Individuen in die Sphäre des Konsums verlagerte, dort aber ein zu geringes Angebot an Differenzierungsmöglichkeiten geboten wurde. Es wurde eine Nachfrage geschaffen, zu der sich die modernisierte kapitalistische Produktionsweise (noch) nicht in der Lage sah, ein Angebot zu liefern. Im Gegensatz zur auf möglichst breiten Konsens setzenden Mainstream-Kultur setzte die Gegenkultur auf Abgrenzung und bediente damit den zunächst kleinen Markt für identitätsstiftende Waren deutlich besser als dies der Mainstream konnte.
Sehr schnell entwickelte die Gegenkultur eine Dynamik, die beträchtliches gesellschaftliches Konfliktpotential freisetzte. Das der Gegenkultur zu Grunde liegende Bedürfnis nach Abgrenzung wurde sehr schnell als Angriff auf die etablierten kulturellen Werte angesehen und als solche attackiert. Damit verstärkte sich die der Gegenkultur inhärente Tendenz zur Abgrenzung; das passive „wir wollen mit unserem Lebensstil in Ruhe gelassen werden“ schlug um in aktive Provokation. Das offensive Bekenntnis zu Sex, Drugs and Rock’n’Roll eskalierte in dem Maße, in dem die Reaktionen der Gegenseite die erwünschte identitätsstiftende Wirkung zeitigte. Als am 2. Juni 1967 in Berlin ein harmloser Student namens Benno Ohnesorg erschossen wurde, erreichte die Entwicklung eine neue qualitative Stufe: Die Trias von Sex, Drugs and Rock’n’Roll wurde um die damals ultimative Provokation, den militanten Anti-Kapitalismus ergänzt. Die von den Bedürfnissen des Marktes geforderte Entwicklung ausdifferenzierter identitätsstiftender Waren brachte eine Ware hervor, deren geregelte Einbindung in den allgemeinen Warenkreislauf rund ein Jahrzehnt dauern sollte: Einen neuen linken Radikalismus, der mit dem alten Antikapitalismus der Arbeiterbewegung praktisch nichts gemein hatte.
Das Problem war, daß sich dieser linke Radikalismus selbst mißverstand und wohl auch mißverstehen mußte: Während der alte Antikapitalismus der Arbeiterbewegung ein wesentlich kollektives Unterfangen war, war der neue Linksradikalismus zutiefst individualistisch. Er war nicht mehr durch die Strukturen der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse determiniert, aus denen die Arbeiterbewegung ihre Zielvorstellung bezog, die durch den spezifischen kulturellen Überbau nur vermittelt wurden. Der neue Linksradikalismus entsprang vielmehr direkt den inhärenten Widersprüchen des kulturellen Überbaus, dem Zwang, sich selbst definieren zu müssen, ohne daß der Markt ein ausreichend differenziertes Sortiment identitätsstiftender Waren bereitgestellt hätte.
Man möge mich nicht mißverstehen: Ich will hier nicht in klassisch marxistischer Argumentationsweise herumnörgeln, die sogenannte ’68er-Bewegung sei „nur“ eine Überbau-Revolte gewesen, im Gegensatz zur guten, alten Arbeiterbewegung, die fest im Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen verwurzelt gewesen sei. Die eine wie die andere Bewegung wäre ohne die inhärenten Widersprüche des Kapitalismus zu einem bestimmten Zeitpunkt seiner Entwicklung undenkbar gewesen. Und wenn die ’68er Bewegung etwas gezeigt hat, dann dies, daß die Widersprüche des Überbaus so real sind wie die der ökonomischen Basis; im einen wie im anderen Fall gab die mehr oder minder gewaltsame Auflösung dieser Widersprüche der Geschichte eine neue Wendung, deren Sinn sich erst nach und nach erschließt.
Und am wenigsten begriffen die Protagonisten der neuen Bewegung, was sie eigentlich taten:
„Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebende. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung unt mit dieser erborgten Sprache die neue Weltgeschichtsszene aufzuführen.“ [MEW 8, S.115]
Der Klassenkampf, wie er in den Jahren ’68ff von linksradikaler Seite aus propagiert wurde, hatte mit dem Klassenkampf, wie ihn sich Marx und Engels vorgestellt hatten, wenig zu tun. Damit will ich nicht sagen, daß der linke Radikalismus schon vor 35 Jahren so wie heute entweder eine akademische Disziplin oder ein Hobby wie Freeclimbing darstellte. Tatsächlich reichten die Ideen oder Parolen von ’68 bis weit in die reale Arbeitswelt hinein. Aber selbst wo die klassenkämpferischen Parolen der Bewegung die als Proletariat imaginierten Lohnabhängigen erreichten, hatten sie eine völlig andere Bedeutung. Am deutlichsten wird dies bei einem sehr wichtigen Segment der Bewegung, nämlich den Lehrlingen.
Zentrales movens der Lehrlingsbewegung war es, im Betrieb nicht in klassischer Manier als ein Stück Menschenmaterial angesehen zu werden, dem jede Individualität ausgetrieben werden sollte. Zu einem sehr großen Maße ging es darum, auch im Ausbildungs- und später im Arbeitsprozeß seine Individualität mit einbringen zu können. Schaut man sich heute die Flugblätter von damals an, dann wurde vor allem darum gestritten, lange Haare tragen zu dürfen, nicht wegen irgendwelcher Buttons angepflaumt zu werden, in Lehrlingsheimen vernünftige Freiheiten zu besitzen und so weiter.
Das heißt, selbst dort, wo die ’68er-Revolte dem Klassenkampf am nächsten kam, in der Lehrlingsbewegung, stand die von den Lehrlingen als Konsumenten gefundene Identität im Mittelpunkt, die nun auch in der Rolle des Produzenten bewahren werden sollte. Anti-autoritär handeln hieß, um das Schlagwort auf den Punkt zu bringen, die Entscheidungsfreiheit des Konsumenten auch in den Institutionen, die eine solche Entscheidungsfreiheit verweigerten, durchzusetzten. Deshalb stand die Fabrik in den 70er Jahren gleichberechtigt in einer Reihe mit Schulen, Erziehungsheimen, Knästen, Universitäten oder der zentralen Repressionsinstanz: der Familie.
Ich betone es hier noch einmal ausdrücklich: Wenn ich hier das Selbstverständnis zumindest von Teilen der Bewegung, in der Tradition des revolutionären Klassenkampfes zu stehen, zertrümmere, dann nicht, um die Kämpfe selbst abzuwerten. Die 68er Revolte hat eine mindestens so große Palette an Errungenschaften aufzuweisen wie die Arbeiterbewegung. Und die Illusionen über die historische Bedeutung ihrer Kämpfe ist sicherlich bei beiden Bewegungen untrennbar mit ihren Erfolgen verknüpft. Es bedurfte der Überschätzung der eigenen Kräfte, des Glaubens, man könne Gesellschaft nicht nur verändern, sondern grundlegend umwälzen, revolutionieren, um dem blinden Mechanismus des Kapitals das wenige abzutrotzen, was trotz aller Niederlagen dazu berechtigt zu sagen: es hat sich gelohnt.
Der Niedergang der 68er-Bewegung setzte dann ein, als das Kapital die Produktion von identitätsstiftenden Waren in eigener Regie übernahm. Inzwischen haben wir einen hochgradig ausdifferenzierten Markt für Identitätswaren, der jede noch so ausgefallene Selbstinszenierung unterstützt. Auf der anderen Seite versteigen sich diejenigen, die um jeden Preis an ihrem angeblich revolutionären Status festhalten wollen in obskure Abgrenzungsstrategien wie Antisemitenjagd oder Wertformanalyse oder gleich beides zusammen.
Angesichts dieses trostlosen Zustandes des linken Radikalismus ist man eigentlich versucht, endgültig das Handtuch zu werfen. Was einen davon abhält ist sicherlich nicht die linke Szene, sondern die augenblickliche maßlose Attacke sowohl auf die Errungenschaften der Arbeiter- wie auch der ’68er-Bewegung. Und besonders pikant ist das deshalb, weil dieser backlash zumindest hierzulande von denen getragen wird, die sich als die institutionalisierten Erben der einen wie der anderen Bewegung verstehen: von SPD und Grünen.
Andererseits scheinen sich aber auch hie und da wenn auch kleine, so doch immerhin ermutigende Zeichen des Widerstands anzudeuten: Demonstrationen gegen Hartz IV, wilder Streik bei Opel. . . Na ja, das war’s dann auch schon an ermutigenden Zeichen. Aber immerhin, so ist man geneigt zu sagen. Schließlich richten sich diese Aktionen gegen Stärkere, gegen Staat und Kapital und nicht, wie im letzten Jahrzehnt, wenn sich der Bürger erhoben hat, gegen Migranten. Daß nun von bestimmten pseudo-linksradikalen Kreisen dann auch gleich eine Verbindungslinie zwischen den Angriffen auf Migranten und den neueren Klassenkämpfen gezogen wird, verwundert nicht weiter; diskussionswürdig ist dies nicht. Ich glaube allerdings aus anderen Gründen nicht daran, daß diese Abwehrkämpfe Zeichen einer Renaissance des Klassenkampfes sind.
Rekapitulieren wir noch einmal: Auch wenn Marx und Engels ihren Begriff des Klassenkampfes aus propagandistischen Gründen weit über die verschiedensten historischen Epochen ausgedehnt haben, der einzige Klassenkampf, der als Motor gesellschaftlicher Veränderung interpretiert werden kann, war der Klassenkampf des Industrieproletariats gegen das Kapital. Dieser Kampf konnte deshalb erfolgreich geführt werden, weil das Kapital auf die Arbeitskraft, die die Proletarier zu verkaufen hatten, angewiesen war. Wo es den Arbeitern gelang, ihre Arbeitskraft durch gewerkschafltiche Organisation zu monopolisieren, waren sie in der Lage, den Repräsentanten des Kapitals Bedingungen zu diktieren. Dies ist die schlichte Wahrheit hinter einem hochgradig mythisch aufgeladenen Begriff.
Neuere gesellschaftliche Proteste wie die Montagsdemonstrationen gegen Hartz IV sind zwar Kämpfe für den Erhalt sozialer Errungenschaften, die vom Proletariat direkt oder indirekt erkämpft wurden, doch diesen Kämpfen fehlt etwas ganz entscheidendes, nämlich die Drohung eines Klassenkampfes, der die Reproduktion des Kapitals selbst in Frage stellen würde. Die jetzt gefährteten sozialen Errungenschaften konnten dem Staat nur abgetrotzt werden auf Grundlage des Klassenkampfes zwischen Kapital und Arbeit, um das diesem innewohnende Konfliktpotential zu entschärfen. Anders ausgedrückt: Der Staat setzte, von der Arbeiterklasse unter Druck gesetzt, seinerseits das Kapital in dessen eigenem Interesse unter Druck, einen Teil des produzierten Mehrwerts vermittels des Staates wieder der Arbeiterklasse zukommen zu lassen. Und dieses Spiel mit seinen verteilten Rollen von Kapital, Arbeit und Staat funktionierte für das halbe Jahrhundert nach dem 2. Weltkrieg verhältnismäßig gut, zumindest was die kapitalistischen Metropolen betraf.
Warum bricht dieses eingespielte System nun auf einmal zusammen? Auf einer ganz oberflächlichen Ebene ist zunächst einmal eine relative Schwäche des Staates gegenüber dem Kapital festzustellen. Diese Schwäche hat ihren eigentlichen Grund in der Internationalisierung des Kapitals. Natürlich war das Kapital auch schon im 19. und 20. Jahrundert international organisiert, davon handeln ja gerade die verschiedenen Imperialismustheorien. Doch die internationale imperialistische Arbeitsteilung fußte auf einer qualitativen Differenzierung. In ihrer primitivsten Form liefern die abhängigen Länder Rohstoffe, die dann in den Metropolen Endprodukten verarbeitet wurden. Unqualifizierte Arbeit dort, qualifizierte Arbeit hier. Zum anderen waren die Produktionsmittel selbst sehr statisch, d.h., sie waren immobil und an sehr spezielle Zwecke gebunden. Dies machte die Produktion territorial abhängig, was wiederum dazu führte, daß der Staat dem Kapital wenigstens in den imperialistischen Metropolen Minimalbedingungen diktieren konnte.
Der technologische Schub, den die Informations- und Kommunikationstechnologie in den letzten 20 Jahren erfahren hat, und der zunehmend auf den produktiven Sektor Rückwirkungen hat, zerstört zusehends die territoriale Bindung des Produktionsprozesses. Auch wenn es immer noch schwierig ist, von heute auf morgen die Produktion von hier nach da zu verlegen; und auch wenn eine solche Verschiebung unnötige Kosten verursacht: Prinzipiell steht inzwischen immer die Drohung im Raum, daß die Produktion in einen anderen Staat verlagert wird, der bessere Verwertungsbedingungen für das Kapital bietet. Damit ist dem Kapital eine Waffe nicht nur gegen die Arbeiter, sondern auch gegen den Staat in die Hand gegeben, der die alte Balance gnadenlos aus dem Tritt bringt.
Hinzu kommt, daß gerade die Informationstechnologien unqualifizierte Arbeit zusehends entwerten, das heißt, immer mehr Menschen der staatlichen Fürsorge überantwortet, weil sie für produktive Arbeit — im Sinne des Kapitals — schlichtweg entbehrlich werden. Der Glaube, daß die Informationstechnologie die Automobilindustrie als Wachstumsmotor des Kapitals ablösen könnte, wie noch in den 90er Jahren gemutmaßt wurde, war hochgradig albern. Im Gegenteil wird dadurch eine große Zahl vor allem unqualifizierte Arbeitskräfte freigesetzt, und dies mit gravierenden, heute noch kaum abschätzbaren Folgen.
Um den sozialen Frieden durch diese Entwicklung nicht zu gefährden, wird deshalb staatlicherseits versucht, einen zweiten Arbeitsmarkt zu schaffen, in dem mit eigentlich überflüssigen Pseudojobs die aus dem eigentlichen Produktionsprozeß Ausgespuckten aufgefangen werden sollen. So betrachtet ist Hartz IV nicht im eigentlichen Sinn ein staatlicher Angriff auf Arbeitnehmerrechte, sondern der verzweifelte Versuch eines schwachen Staates, bei sinkenden Einnahmen seiner Funktion, den sozialen Frieden zu garantieren, nachzukommen. Und genau deshalb sind die Hartz IV-Proteste so hoffnungslos: Hier protestieren Ohnmächtige, die an einen selbst zunehmend machtlosen Adressaten, den Staat, appellieren, er möge doch alles beim alten belassen.
Daß sich in diesen Protest auch unangenehm nationalistische und ausländerfeinliche Töne mischen, sollte man, glaube ich, nicht überbewerten. Solange der Staat ein Nationalstaat ist, werden Protestaktionen, die Forderungen an den Staat stellen, immer auch einen nationalistischen Bodensatz aufweisen. Das ist zwar ekelhaft, und man muß dem auch entschieden entgegentreten; doch dieser nationalistische Bodensatz darf nicht pars pro toto dazu dienen, jede vernünftige Analyse des Protestes im Keim zu ersticken, nur weil man ja sowieso schon wieder weiß, daß es sich wie immer um einen Ausfluß des berüchtigten morbus germanicus handelt, eines mit dem morbus islamicus verwandten genetischen Defekts.
Das Hauptproblem der Hartz IV-Proteste ist nicht, daß sie nationalistisch oder antisemitisch oder was auch immer wären, sondern daß sie völlig ohnmächtig sind. Schon jetzt ist abzusehen, daß sich der Arbeitsmarkt dauerhaft in zwei Teile zerlegen wird: Der eine Teil wird aus gut ausgebildeten und entsprechend bezahlten Spezialisten bestehen; für den Rest wird es einen völlig unterbezahlter zweiter Arbeitsmarkt geben, über den sinnlose unproduktive Arbeiten ans Staatsvolk verteilt werden; und dies auch nur, wenn das Kapital bereit ist, zugunsten einer Sicherung des sozialen Friedens die Finanzierung zu übernehmen.
Und man muß sich auch ganz klar eingestehen: Diese staatliche Organisation eines zweiten Arbeitsmarktes ist nur die zweitschlechteste der Möglichkeiten, die uns in Zukunft blühen könnten. Die schlechteste — und im Weltmaßstab gar nicht so unrealistische — Möglichkeit wäre es, daß die für den Produktionsprozeß Überflüssigen von allen Institutionen völlig fallengelassen werden.
Statt also klassenkämpferische Illusionen zu hegen und hilflose sozialdemokratische Rückzugsgefechte gegen die Sozialdemokratie auszufechten, sollten wir uns lieber fragen, ob wir Hartz IV nicht vielmehr umgekehrt als Chance begreifen können. Das mag jetzt sehr ketzerisch klingen, ist aber gar nicht so weit hergeholt, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Betrachten wir die 1 Euro-Jobs einmal nicht als das, was sie sind, nämlich ein Baustein im Aufbau eines zweiten Arbeitsmarktes für gesellschaftlich Überflüssige, sondern das, was sie angeblich sein sollen: Ein Anreiz, aus der Passivität des Arbeitslosen- oder Sozialhilfeempfängerdaseins auszubrechen.
Dann könnte Hartz IV tatsächlich eine Antwort auf die alte Frage sein, die sich die subjektivistische radikale Linke, die sich außerhalb des gewerkschaftlichen Organisationsspektrums bewegt, immer vergeblich gestellt hat: Wie organisieren wir eigentlich die Menschen, die nicht in den gesellschaftlichen Arbeitsprozeß eingegliedert sind? Wie kommen wir an diese Menschen heran? Und was können wir ihnen programmatisch bieten? Hartz IV liefert für diese Problem eine verblüffend einfache Lösung: Wir bieten ihnen in Form von 1-Euro-Jobs an, etwas gesellschaftlich Sinnvolles zu tun, nämlich im Rahmen unserer bestehender Infrastrukturen und Initativen am Untergang des Kapitalismus mitzuarbeiten. Und wir kommen sehr einfach an sie heran, nämlich indem wir die Bundesagentur für Arbeit dazu nutzen, alle diejenigen anzusprechen, die es satt haben, vor der Glotze zu sitzen und sich weiter verblöden zu lassen.
Das — zumindest so kolportierte — hohe Interesse an den sogenannten 1-Euro-Jobs ist durchaus ein Indiz dafür, daß es für viele Menschen wichtig ist, das Gefühl zu haben, aus ihrer Isolation herauszukommen und etwas Sinnvolles zu tun, egal, ob es dafür Geld gibt oder nicht. Wir, die wir in der Regel ohne Bezahlung alle in irgendwelchen linken Initiativen oder Gruppen mitarbeiten, sollten dieses Bedürfnis ganz gut nachvollziehen können. Und gibt es etwas Sinnvolleres als an der Abschaffung des Kapitalismus mitzuarbeiten? Und können wir uns etwas Schöneres vorstellen als die Möglichkeit, ausgerechnet die Bundesagentur für Arbeit dafür einzusetzen, um neue Mitstreiter und Mitstreiterinnen zu finden? Wir sollten zumindest darüber diskutieren.